Wie so oft weiß ich erbärmlich wenig über die Kultur und die Kunst der DDR. Das ist wohl, was die staatstreue Kunst betrifft, nicht so schlimm, aber dass es es unabhängige und freie Künstler gab, die es natürlich mit ihrer Unabhängigkeit und ihrer Freiheit schwer hatten, das nehme ich viel zu selten wahr. Ich nehme das auch auf meine eigene Kappe, ich könnte mich ja mehr damit beschäftigen – um so dankbarer bin ich, dass es bisweilen Dokumentarfilme gibt, die diese Wahrnehmungslücken versuchen zu schließen.

Überhaupt stelle ich fest, dass der deutsche Dokumentarfilm viel mutiger ist bzw. viel mutiger sein kann, als es der Spielfilm ist. Das hat natürlich auch mit den Kosten eines Dokumentarfilms zu tun, man sehe sich exemplarisch die Abspänne von Spiel- und von Dokumentarfilmen an: Bei Dokus müssen schlicht und einfach viel weniger Menschen bezahlt werden, was dazu führt, dass man schon bei relativ gesehen wenigen Zuschauern Geld verdienen kann. Klingt so, als ob es paradiesisch wäre, in der deutschen Kinolandschaft Kinodokumentationen zu drehen. Ist es nicht, aber das mit der mutigen Themenwahl, das unterschreibe ich.
Also: Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, irgendwann Mitte, Ende der Siebziger Jahre. Die titelgebende Clara hat nicht so richtig was mit Clara Zetkin zu tun, es handelt sich um Clara Mosch. Wer ist das? „So eine wie Clara Mosch hätte es nicht geben dürfen! Gab es aber doch“, verkündet die Stimme im Off-Kommentar. Nun: Es gab wirklich keine Clara Mosch, zumindest nicht als realexistente Frau. Clara Mosch war eine unabhängige, freie Künstlergruppe in Karl-Marx-Stadt. Und der Name wurde gebildet aus den Anfängen der Nachnamen der Künstler: Carlfriedrich Claus, Thomas Ranft, Michael Morgner, sowie Gregor-Torsten Schade (später Kozik) und Dagmar Ranft-Schinke. „Zwischen Dada, Dürer und Duchamp“, ordnet die fiktive Clara Mosch im Off-Kommentar die Arbeit der Künstlergruppe ein: „ein Phantom für eine freie Kunst in einem unfreien Land.“

Es geht um das Verhältnis freier Kunst – und Kunstfreiheit – zur diese als unerwünscht einordnenden Diktatur: „ein Film darüber, wie man aus der Reihe tanzen, hinfallen und wieder aufstehen kann.“ Einer der Protagonisten der Geschichte, neben den fünf Künstlern, ist Gunnar, einst so etwas wie der Galerist von Clara Mosch, heute ein Archivar für deren Werk, ein „Missionar der Avantgarde“. Noch heute kümmert er sich engagiert um deren Arbeiten, organisiert Ausstellungen, tut sein Bestes beim Verkauf der Mosch-Werke.
Das Ganze ging damals Ende der Siebziger los mit der legendären „Galerie Oben“, manchmal GO genannt, oben schlicht deswegen, weil sie oben im ersten Stock war, über einem Kunstgewerbeladen, der Weihnachtsfiguren und Ähnliches verkaufte. Neben den eigenen einzelnen Kunstwerken, die die Mitglieder schufen, gab es immer wieder auch Gruppenarbeiten, Gemeinschaftsprojekte, Aktionen, Performances, „Avantgardeaktivitäten im Tal der Ahnungslosen“, wie es irgendwann heißt. Das war ein Gegenentwurf zu den offiziellen DDR-Künstlern, die im Verband der Künstler der DDR organisiert waren, die die neuen Fragen des Lebens aufgreifen sollten, hieß es damals, die aus der Auseinandersetzung mit dem imperialistischen Gegner entstünden. Hieß es. Applaus. Von offizieller Seite, nicht so von Clara Mosch.

Clara Mosch stand für die freie Kunst, für die eher Künstler wie Jackson Pollock von Bedeutung waren, als die offiziellen, von der DDR genehmigten Vorbilder. Die Galerie Oben war „ein multifunktionaler Raum, wie aus der Zeit gefallen.“ Es war eine in vielerlei Hinsicht grenzüberschreitende Kunst, es waren intermediale Arbeiten. Und trotz aller Unfreiheit, hatte man auf dem Fundament der genossenschaftlichen Zusammenarbeit sogar halbwegs gute finanzielle und wirtschaftliche Voraussetzungen.
Und es gab einen unerwarteten Dokumentar, einen unerwarteten Beobachter der Arbeit der Gruppe Clara Mosch, ja es war sogar ein inoffizieller Kunstkritiker. Nein, ich korrigiere: Nicht einer, sondern 152. Nämlich sage und schreibe 152 IMs, die die Arbeit der Gruppe verfolgten, das ließ sich später aus den Stasiakten ermitteln. So wichtig war der Stasi und dem Staat die Gruppe dann doch, so stark war diese Gruppe dann doch, viel stärker als die Summe der Arbeit, die sie als Einzelkämpfer hätten leisten können.
Irgendwann gründete man in der Provinz eine eigene „Galerie Clara Mosch“. In beiden Galerien hatte es jeweils regelmäßige Veranstaltungen gegeben, Kunst, Musik, Performances, Auktionen. Es gab auch Aktionen im Wald, bei denen mit Ästen räumliche Objekte arrangiert wurden – putzig wie der „Stasikunstkritiker“ das Werk analysiert hatte. Es gab unvergessliche, legendäre Performances wie „Das schwarze Frühstück“, es gab Fußballspiele im Dienst der Kunst, es gab Haare schneiden als Performances. Und es gab irgendwann auch Westkontakte, etwa über die Ständige Vertretung. Es gab eine Begegnung mit Beuys, voller Selbstbewusstsein der Künstlergruppe – und es gab irgendwann Kontakte mit dem Kunstsammler Peter Ludwig.
Aber spätestens mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns war klar, dass die Wahl irgendwann lauten könnte: Gefängnis oder Ausbürgerung.

Die Dokumentarfilmerin Sylvie Kürsten, geboren 1979 in Ludwigsfelde, arbeitet seit 2011 als Filmemacherin, nach mehreren TV-Dokumentationen zu Künstler*innenthemen, etwa „Kunst und Verbrechen“ (2015), „Von der Fabrik zur Kunst“ (2022) und „Tamara de Lempicka – Königin der Moderne“ ist GO CLARA GO nun ihr Kinodebüt. Die Kunst aus ihrem Heimatland sei lange ein blinder Fleck gewesen, sagt sie und das treffe auch zu auf diese „kleine renitente Gruppe, welche die Kulturpolitiker des Landes vor 50 Jahren zum Narren hält und die offizielle Doktrin sozial-realistischer Erbauungskunst unterwandert. Mit häufig sehr kleinen, aber großartigen, nonkonformen Werken. Und vor allem mit Aktionen, die nicht nur den klassischen Kunstrahmen, sondern auch kulturpolitische Vorgaben sprengen.“
Sylvie Kürsten gelingt ein so wunderbarer, komplett klischeefreier Blick zurück in die künstlerische Lebenswirklichkeit der DDR jener Jahre. Ihr Film ist liebevoll, detailgenau und bietet einen grandiosen Blick auf diese Künstlergruppe, die damals so mutig, so engagiert – und vor allem so voller Witz dem DDR-Regime die Stirn bot: „Da wo’s besonders wenig zu lachen gibt, muss man umso lauter lachen“, heißt es irgendwann gegen Schluss. Wie großartig, dass die Arbeiten dieser Künstlergruppe mittlerweile sogar in den USA angekommen sind – „mit uns müssen Sie also rechnen“, aber nicht nur im internationalen Kunstbetrieb, sondern jetzt eben auch in hoffentlich möglichst vielen deutschen Kinos: „Spätestens jetzt braucht es einen Film über die Gruppe Clara Mosch“, sagt Sylvie Kürsten, „es ist genau der richtige und vielleicht auch der letzte Moment, in dem wir von den Erfahrungen dieser schrägen, aber doch immer freien und humorvollen Vögel lernen können.“ Danke dafür.