Zwanzig Jahre meines früheren Lebens habe ich ja in der Filmbranche verbracht und dort PR für Kinofilme gemacht, viel für IMAX und viel für die 20th Century Fox, als es sie noch gab, und je nach Filmangebot mit teils größerer oder kleinerer Begeisterung. Eine meiner absoluten Lieblingspersonen aus dieser Zeit ist Knut Elstermann. Knut ist vor allem als Filmkritiker und Gesprächspartner bei Radio Eins bekannt, aber zum Beispiel auch als Berlinale-Berichterstatter im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Er hat aber auch schon einige Bücher geschrieben, zuletzt hat er für eine wunderbare Entdeckung außerhalb des Filmbereichs gesorgt, nämlich mit dem Buch „Der Canaletto vom Prenzlauer Berg“, in dem er den Maler Konrad Knebel für uns entdeckte.
Knut ist aus mindestens vier Gründen eine meiner Lieblingspersonen unter den deutschen Filmjournalisten: Erstens: Er ist ein wunderbar herzlicher und zuverlässiger Mensch, der Praktikant*innen, mit denen er zu tun hat die gleiche Wertschätzung entgegenbringt, wie den Schauspieler*innen und Regisseur*innen, die wir ihm für Interviews vermittelt haben. Zweitens: Ich bin bei weitem nicht mit allen Filmkritiken von Knut einverstanden, aber er gehört zu den wenigen Filmkritiker*innen, denen ich beinahe blind vertrauen würde, einfach weil wir, glaube ich, uns bei Filmen für ähnliche Dinge interessieren. Ich weiß nicht, wie ich’s verkürzt ausdrücken soll, vielleicht so etwas wie: Wahrhaftigkeit ist wichtiger als Spektakel, oder so. Drittens: Seine Interviews, besser: seine Gespräche sind einfach wunderbar – dazu gleich mehr. Und viertens: Knut spielt in meiner Fotografenkarriere eine große Rolle, er hat nämlich eine ganz wundervolle Einführungsrede zu meiner allerersten Einzelausstellung in der Fotogalerie Friedrichshain gehalten. Und er fand damals auch wunderbare Worte: „Endlich: Der begnadete Fotograf Jürgen Bürgin hat seine erste Ausstellung: Urban Ballads – Bilder von berühmten Städten wie Paris und New York, die durch Jürgens Blick plötzlich verwandelt, fremd, poetisch und geheimnisvoll erscheinen.“ Danke nochmal!
Aber zurück zu Knuts Gesprächskunst. Im Berliner be.bra Verlag erschien jetzt Knuts Gesprächsband „Im Gespräch. Knut Elstermann befragt ostdeutsche Filmstars“. Das Buch versammelt Dutzende Gespräche, die Knut mit Regisseuren und Schauspieler*innen, aber dankenswerterweise auch mit Vertreter*innen allerlei anderer, in der Öffentlichkeit viel zu wenig wahrgenommener, filmischer Berufszweige, Drehbuch, Ausstattung, Kamera etc., geführt hat, mit Menschen, deren Karriere mit der DEFA verbunden waren und die zum Teil auch nach der Auflösung der DEFA erfolgreich weiterarbeiten konnten, zum Teil aber auch nicht mehr. Meist sind es Radio- oder Bühnengespräche, die aber auch in der Schriftform ganz wunderbar funktionieren.
Nun stamme ich aus dem Westen und kenne viele der Filme nicht, um die es in den Gesprächen geht, obwohl ich damals im Studium doch einige DEFA-Filme nachgeholt habe. Aber dennoch gab es Zeiten, in denen ich die Filmografien von Rainer Werner Fassbinder oder Volker Schlöndorff auswendig runterbeten konnte, während ich von Heiner Carow und Frank Beyer jeweils nur einzelne Filme kannte. Knut und seine Gesprächspartner*innen schaffen es nun aber, mein Interesse an der Hinterlassenschaft der DEFA zu befeuern. Mein Gott, was muss ich jetzt alles nachholen, was unglaublich spannend und interessant klingt, was ich aber bisher nicht gesehen habe: Zeit der Störche von Siegfried Kühn, Der Mann der nach Oma kam von Roland Oehme, Das Luftschiff von Rainer Simon, Kindheit von Siegfried Kühn, Treffen in Travers von Michael Gwisdek, Die schwarze Mühle von Celino Bleiweiß, Jadup und Boel von Rainer Simon, Das Haus am Fluß von Roland Gräf, Die Schlüssel von Egon Günther, und so vieles mehr. Dank ICESTORM Entertainment sind diese Filme ja auf DVD und zum Teil auch bei Streamingdiensten verfügbar.
In kurzen Texten vor jedem der Gespräche ordnet Knut das Interview zeitlich ein und führt in die Karrieren der jeweiligen Filmschaffenden ein. Und wie immer bei Knut artet das auch nicht in ein filmhistorisches Hauptseminar aus, sondern ist mit Leben gefüllt und mit tiefem Interesse an den betreffenden Menschen. Und was gibt es da für großartige Gespräche zu lesen.
Da sind nachdenkliche Gespräche, wie das mit Jaecki Schwarz aus dem Jahr 2021, über seine Arbeit in Konrad Wolfs Film „Ich war neunzehn“. Da gibt es Gespräche mit Vertreter*innen dieser oft zu sehr missachteten Berufszweige, die aber so entscheidend darüber mitbestimmen können, ob ein Film langweilig und uninspiriert ist – oder aber zu einem bleibenden Werk wird. Das Gespräch mit der Kostümbildnerin Barbara Baumann, die unter anderem die Kostüme für „Die Legende von Paul und Paula“ entworfen hat, ist ein solches. Und sie erzählt, wie fruchtbar ihre Zusammenarbeit mit dem Regisseur Heiner Carow war, der doch als kompliziert galt. Es gibt das Gespräch mit Matthias Freihof und Dirk Kummer, die in dem denkwürdigen Film „Coming Out“ mitspielten, dem ersten DEFA-Spielfilm über Homosexualität, der dann ausgerechnet am Tag des Mauerfalls Premiere feierte.
Und da gibt es jenes Gespräch mit Michael Gwisdek, der ja 2020 gestorben ist. Knut sprach mit ihm im Jahr 2017 und das Gespräch ist so wundervoll chaotisch, durcheinander, lustig und schräg – für mich vielleicht einer der Höhepunkte dieses Buches. Knut erläutert: „Das in Teilen hier Wiedergegebene kann nur unvollkommen die halbfertigen Sätze, die Andeutungen und Gesten wiedergeben, das absichtsvolle Verirren, aus dem sich doch immer wieder ein Sinn ergibt, und schon gar nicht seine Präsenz auf der Bühne.“ Und so kommt es auch, Gwisdek, als Knut ihn auf seinen 75. Geburtstag anspricht, behauptet, von seinem 70. Geburtstag hätte er zum Beispiel gar nichts gewusst, Henry Hübchen hätte ihn damals angerufen, und da hätte er, Gwisdek, erst seine Frau fragen müssen, ob das denn stimme. Verzweifelt versucht Knut das Gespräch auf einige der 100 Filme von Gwisdeks Karriere zu bringen, das Gespräch „mäandriert“ dann um einige der Filme herum und gipfelt dazwischen darin, dass Gwisdek Knut auffordert, ihn doch „Spielmaus“ zu nennen. Versöhnlich sagt der Schauspieler am Schluss: „Ich hab mich eigentlich nicht um meine Karriere gekümmert, darum ist die nicht spektakulär verlaufen oder so, sondern stetig. Also ich bin immer noch am Leben, und ich hab das Leben geführt, das ich mir vorgestellt habe.“
Bedrückend sind dann Gespräche wie jenes mit der Drehbuchautorin Christa Kozik, die für die DEFA vor allem Bücher für Kinder- und Jugendfilme schrieb, etwa „Moritz in der Litfaßsäule“, „Ein Schneemann für Afrika“ oder „Sieben Sommersprossen“. Zum Ende der DEFA sagt sie: „Ich war erschüttert und total am Boden, dass dieses Filmstudio verschwand, ein Städtchen der Kunst (…) Wir haben den neuen Herren im Studio Angebote gemacht, versucht, uns einzubringen. Aber nichts wurde akzeptiert. Niemand kannte uns oder wollte wissen, was wir gemacht haben. (…) Die Entlassung, die Bücher auf dem Müll, keine Chance mehr, nur Demütigungen.“ Knuts Buch hilft dabei, dass die Arbeit von Menschen wie Christa Kozik nicht vergessen wird.
„Und bei Knut Elstermann sind sie alle in besten Händen“, schreibt Andreas Dresen im Vorwort. „Seine Gespräche sind nicht nur von Kompetenz getragen, sondern auch von Empathie, Wärme und vor allem großer Neugier.“
Ich geh jetzt noch ein paar DEFA-Filme schauen. Roland Gräfs „Mein lieber Robinson“ hab ich gerade gesehen – und mein Sohn meinte, er würde gerne noch einmal „Die Geschichte vom kleinen Muck“ sehen.
Knut Elstermann: Im Gespräch. Knut Elstermann befragt ostdeutsche Filmstars — Mit einem Vorwort von Andreas Dresen.
352 Seiten, 14 x 22 cm, Gebunden, 45 s/w-Abbildungen
Mai 2021
24,– €
ISBN 978-3-86124-748-7