Ein Dokumentarfilm von André Schäfer. Ab 6. Oktober 2022 im Kino.
A documentary by André Schäfer. In cinemas October 6, 2022.
à ENGLISH VERSION BELOW
„Erstens ist das Schreiben ja etwas, was ein bisschen Zeit braucht,“ sagt Martin Suter, der Schriftsteller, geboren 1948 in Zürich – den wir meistenteils als feingekleideten Anzugträger mit gegelter Frisur erleben, „hingegen das Filmen ist etwas, bei dem man nie Zeit hat, oder?“ fragt er den Regisseur André Schäfer. Und jetzt soll er aber so aus dem Stegreif einen Satz sagen, einfach so, über sich, einen der etwas über den Film über ihn aussagt: „Alles über Martin Suter. Außer die Wahrheit“, kommt ihm in den Sinn. Das ist natürlich herrlich doppeldeutig, ironisch, widersprüchlich. Und das ist dann zurecht auch der Filmtitel.
Im Wechsel mit den Dokumentar- und Interviewszenen sehen und hören wir Ausschnitte aus Suters Romanen, auf die Leinwand gebracht, in kurzen Schauspielszenen, sorgfältig inszeniert. Suter kommentiert immer wieder seine Romane und er ist auch selbst Teil dieser Spielszenen, er lässt es sich nicht nehmen, zu schauspielern.
„Die Situation, dass mir nichts einfällt, die kann ich mir zwar vorstellen, aber Gott sei dank passiert sie mir nicht“, erläutert er seinen Schreibprozess. Schreibblockaden kennt er nicht. Und dann kommen die Interviews mit Wegbegleitern Suters, Stuckrad-Barre zum Beispiel, zuallererst aber: Stephan Eicher, der Chansonnier, bei dessen Konzerten Suter bisweilen auch an der Mundharmonika auftritt. Eicher ist in der Schweiz ein Superstar, in Deutschland wegen seines berndeutschen Dialekts (von dem er aber manchmal auch ins Hochdeutsche oder Französische wechselt) nicht ganz so sehr. Aber man kennt ihn (und man kennt ihn erst recht, wenn man, wie ich, an der Schweizer Grenze aufgewachsen ist und den berndeutschen Dialekt damit mit Links versteht). Eicher und Suter zeigen den Filmleuten ein interessantes Schweizer Phänomen: den Röschtigraben, die Sprachgrenze zwischen französisch und deutsch. Humorvoll demonstrieren die beiden, wie es sogar bei ihnen selbst funktioniert: Kaum haben sie die Grenze überschritten, wechseln sie vom Französischen ins Schwyzerdütsche.
Suter erzählt, wie er am digitalen Wandel teilnimmt: Er spürt, sagt er, den Umbruch in der Gesellschaft, weniger Menschen lesen Bücher. Das möchte er aufgreifen und ist auch im Internet tätig. Einen seiner Romane führt er auf seiner Internetseite fort.
Und so wandert Suter mit dem Filmteam durch sein Leben: in das Haus seiner Kindheit, in dem er lebte, bis er 5 war und in dem er heimlich Karl May gelesen hat, erzählt er – und vor einem virtuellen Publikum geschauspielert hat. Sichtlich gerührt ist er dann, weil er nicht glaubte, diesen Ort seiner Kindheit noch einmal wiederzusehen. Überrascht ist er, dass er sich noch so gut an Einzelheiten erinnern konnte. Die nächste Etappe ist sein Einstieg ins Berufsleben als Werbetexter in einer Werbeagentur – und da verdiente er auch schon gut Geld.
Vom Beginn von Suters Schriftstellerkarriere erzählt dann Roman Bucheli, Schweizer Journalist und Literaturkritiker. Ende 40 war Suter schon, als er die ersten literarischen Erfolge hatte. Und Bucheli ist auch einer der Kritiker Suters: Einen Vergleich mit einem McDonalds-Hamburger lässt er vom Stapel. Aber er ringt sich auch dazu durch, dass Suters Romane zwar Unterhaltungsliteratur seien, aber dafür ziemlich gute. Wir erfahren auch ausführlich vom Scheitern, von Romanen, die Suter falsch angegangen war, die abgelehnt wurden.
Und je weiter die Geschichte dieses Dokumentarfilms schreitet, desto tiefer dringen wir auch in die Persönlichkeit und in sein Leben ein, wir begleiten ihn nach Marokko, sehen Filmaufnahmen aus seinen Jahren in Guatemala, von seiner Frau, von seinen Adoptivkindern. Und an dieser Stelle wird der Film persönlich, berührend, überzeugend.
„Mehr als vier Jahre habe ich Martin Suter durch sein Leben und seine Romane begleitet. Entstanden ist das Porträt eines Schriftstellers, der mir sehr offen und freundschaftlich Auskunft über sein Leben, seine Gedanken und sein Handwerkszeug gegeben hat. Er vertraute mir, dass ich sein Augenzwinkern durchschaue; und ich vertraute ihm, dass er mir am Ende den wahren Martin Suter liefert – so, wie ich ihn mir vorstelle“, berichtet André Schäfer, der Regisseur. Und weiter: „Auf mich wirkte Martin Suter bei unserem ersten Treffen fast zurückhaltend und schüchtern – aber er wirkte vor allem verschmitzt. Und als verschmitzt würde ich auch seine Literatur bezeichnen. Mich beschlich der Verdacht, dass Martin Suter sich hinter der sehr technischen Beschreibung seiner kreativen Arbeit verstecken will. Dass er ablenken will von Emotionen, Ängsten und persönlichen Dingen, die in sein Werk fließen und es vermutlich so aufregend machen.“
André Schäfer hat sich in seiner Dokumentarfilmkarriere immer wieder besonderer Biografien angenommen, sei es Willy Brandt, John Irving oder Rock Hudson. Sein Kino-Dokumentarfilm „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ wurde 2008 für den Deutschen Filmpreis nominiert, „Schau mir in die Augen, Kleiner“ und „Rock Hudson – Schöner Fremder Mann“ liefen auf der Berlinale.
„Alles über Martin Suter“ ist ein kurzweiliger Dokumentarfilm über eine spannende Figur der Schweizer Gegenwartsliteratur, einer der erfolgreichsten Schriftsteller, von vielen gelesen, nicht von allen gemocht. André Schäfer gelingt ein überaus vielschichtiges Werk, dass die ganze Klaviatur zwischen Dokumentarfilm, Interviewfilm und Spielfilm überzeugend abdeckt. Man sieht Suter so gerne zu – und mit Sicherheit ist dies auch ein Film, der für Menschen von Interesse ist, die das literarische Werk des Schweizers noch gar nicht entdeckt haben.
„Die Fantasie stimmt ja meistens mehr als die Realität“, sagt Suter irgendwann. Insofern wird der Titel des Films gegen Ende auch ein kleines bisschen widerlegt: Nach dem Film haben wir doch das Gefühl, den echten Martin Suter ein kleines bisschen kennen gelernt zu haben.
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ENGLISH VERSION
„First of all, writing is something that takes a little time,“ says Martin Suter, the writer, born in Zurich in 1948 – whom we mostly see as a well-dressed suit with a gelled hairdo, „on the other hand, filming is something that you never have time for he asks the director André Schäfer. And now he’s supposed to say a sentence off the cuff, just like that, about himself, one that says something about the film about him: „Everything about Martin Suter. Except the truth,” comes to mind. This is of course wonderfully ambiguous, ironic, contradictory. And that’s rightly the title of the film.
Alternating with the documentary and interview scenes, we see and hear excerpts from Suter’s novels, brought to the screen in short drama scenes, carefully staged. Suter keeps commenting on his novels and he is also part of these game scenes himself, he insists on acting.
„I can imagine the situation where I can’t think of anything, but thank God it doesn’t happen to me,“ he explains his writing process. He doesn’t have writer’s block. And then there are the interviews with Suter’s companions, Stuckrad-Barre for example, but first and foremost: Stephan Eicher, the chansonnier, at whose concerts Suter sometimes also appears on the harmonica. Eicher is a superstar in Switzerland, but not quite so much in Germany because of his Bern German dialect (from which he sometimes switches to High German or French). But you know him (and you know him even more if, like me, you grew up on the Swiss border and thus understand the Bernese German dialect with your left hand). Eicher and Suter show the film people an interesting Swiss phenomenon: the Röschtigraben, the language border between French and German. The two humorously demonstrate how it works even for themselves: as soon as they have crossed the border, they switch from French to Schwyzerdütsch.
Suter explains how he is taking part in digital change: He feels, he says, the upheaval in society, fewer people are reading books. He would like to take up this and is also active on the Internet. He continues one of his novels on his website.
And so Suter wanders through his life with the film team: to the house of his childhood, where he lived until he was 5 and where he secretly read Karl May, he says – and acted in front of a virtual audience. He is visibly touched because he didn’t think he would see this place of his childhood again. He is surprised that he was able to remember the details so well. The next stage is his entry into professional life as a copywriter in an advertising agency – and he was already earning good money there.
Roman Bucheli, Swiss journalist and literary critic, then talks about the beginning of Suter’s career as a writer. Suter was already in his late 40s when he had his first literary successes. And Bucheli is also one of Suter’s critics: he made a comparison with a McDonald’s hamburger. But he also brings himself to the point that Suter’s novels are entertainment literature, but pretty good ones for that. We also learn in detail about failures, about novels that Suter went about wrong, that were rejected.
And the further the story of this documentary film progresses, the deeper we penetrate into his personality and his life. We accompany him to Morocco, see film footage from his years in Guatemala, from his wife, from his adopted children. And at this point the film becomes personal, touching, convincing.
“I accompanied Martin Suter through his life and his novels for more than four years. The result is the portrait of a writer who gave me very open and friendly information about his life, his thoughts and the tools of his trade. He trusted me to see through his wink; and I trusted him that in the end he would deliver the real Martin Suter to me – just as I imagined him to be,” reports André Schäfer, the director. And further: “Martin Suter seemed almost reserved and shy to me when we first met – but above all he seemed mischievous. And I would also describe his literature as mischievous. I had the suspicion that Martin Suter wanted to hide behind the very technical description of his creative work. That he wants to distract from the emotions, fears and personal things that go into his work and probably make it so exciting.”
André Schäfer has repeatedly taken on special biographies in his documentary film career, be it Willy Brandt, John Irving or Rock Hudson. His cinema documentary „Lenin kam nur bis Lüdenscheid“ was nominated for the German Film Prize in 2008, „Schau mir in die Augen, Kleiner“ and „Rock Hudson – Schöner Fremder Mann“ were shown at the Berlinale.
„Everything about Martin Suter“ is an entertaining documentary about an exciting figure in contemporary Swiss literature, one of the most successful writers, read by many, not liked by everyone. André Schäfer succeeds in creating an extremely complex work that convincingly covers the entire spectrum between documentary film, interview film and feature film. Suter is such a pleasure to watch – and this is certainly a film that will be of interest to people who have not yet discovered the Swiss literary work.
„Fantasy is usually more correct than reality,“ says Suter at some point. In this respect, the title of the film is refuted a little bit towards the end: after the film we have the feeling that we have got to know the real Martin Suter a little bit.
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CREW Germany
Autor & Regisseur: André Schäfer (DE)
ProduzentInnen: Marianne Schäfer & André Schäfer DE)
Producer: Jascha Hannover (DE)
Postproduction Supervisor Denis Faupel & Jascha Hannover (DE)
CREW Switzerland
ProduzentInnen: Nadine Lüchinger & Flavio Gerber (CH)
Kamera: Andi Widmer (CH)
Musik: Martin Skalsky (CH)
Sound Design: Gina Keller (CH)
Titelsong: Stephan Eicher (CH)
Mischung: Jacques Kieffer, Magnetix (CH)