HOME SWEET HOME beim DOK LEIPZIG-Festival

Die Fünfziger und Sechziger in der alten Bundesrepublik: Wir sind zur Zeit des Wirtschaftswunders. Die Ruinen des Kriegs sind beseitigt, der Wohlstand ist in die Wohnstuben eingekehrt. Wer’s kann hält seinen kleinen Wohlstand und die ersten Urlaubsreisen mit Dias fest – oder eben mit Super 8-Filmen, die dann in der heimischen Wohnung der Familie und den Freunden vorgeführt werden. Die lederbehosten Söhne im Garten, die Mädchen im gepunkteten Sommerkleid. Das neue Familienauto im Bildhintergrund. Man kennt das, wenn man alt genug ist, noch aus eigenem Erleben – oder zumindest aus anrührenden ARD-Dokureihen in den dritten Programmen, die diese Amateurfilmchen dem Vergessen entreißen.

So auch in der Familie der Regisseurin Annika Mayer. Sie befragt ihre Großmutter Rose zu den Aufnahmen aus ihrer Familie: nettes eigenes Häuschen mit Garten, Zelten mit Würstchen und Erbsensuppe, der Nordseeurlaub, der Ausflug zur Bundesgartenschau. Die Bilder der Kinder, sagt die Rose, kann sie sich gut anschauen. Zu ihren eigenen Filmausschnitten, sie selbst als junge Frau, hätte sie keinen Bezug. Als ob das ein anderer Mensch gewesen wäre. Warum?

Und dann erzählt sie über den Großvater, also ihren Mann: „Es war so: Ich wollte ihn gar nicht.“ Und sie erzählt, wie er sie einfach geküsst hatte. Geekelt hätte sie das. Dreizehn Jahre älter war der Mann, war im Krieg, hatte Auszeichnungen erhalten. Aber sie wollte ihn nicht, wurde aber von ihrem eigenen Vater bearbeitet. Man könne das nicht ablehnen. „Ich war eigentlich ein Kind“, erzählt Rose. Aber der Mann wartete eben auf sie, bis sie ihr Abitur gemacht hatte. Aber weil sie dann dachte, dass sie dann ihr Abitur ja eh nicht mehr bräuchte, blieb sie der Schule immer öfter fern.

Im Jahr 1953 heiraten Rolf und Rose schließlich, weil’s eben so gekommen ist. Das Hochzeitsessen: Ochsenschwanzsuppe, Lachs, Rehrücken Carmen und eine Fürst Pückler-Bombe. Spießigkeit der etwas wohlhabenderen Art. Und dann lernt sie ihn richtig kennen: Wie er seinen Vater anschreit, wie er seine Mutter anschreit. Sie ahnte noch nicht, dass sie auch bald sein Opfer werden würde. Viel habe sie ihm verziehen. Und er war anderen Frauen hinterher. Hatte mit Prostituierten Umgang. Und dann begann er, ihr weh zu tun. In aller Öffentlichkeit. Er verfolgte sie, sie hatte immer mehr Angst vor ihm. Geredet wurde mit niemandem darüber, niemand half ihr, alles wurde totgeschwiegen.

Schließlich begann er sie auch zu würgen. Die Würgemale versteckte sie unter dem Rollkragenpullover. Alkohol kam bei ihm ins Spiel. Alles wurde schlimmer…

HOME SWEET HOME ist ein Film, bei dem einem bald bei der ganzen äußeren Wirtschaftswunderbeschaulichkeit der Atem im Hals stecken bleibt. Der Widerspruch zwischen der schönen Äußerlichkeit der Super 8-Bilder und den Erinnerungen Roses ist bedrückend. Es ist ein Glücksfall, dass Rose es heute schafft, über das zu reden, worüber damals immer geschwiegen wurde.

„Ich möchte mit diesem Film auf künstlerische Weise die Zuschauer*innen dazu ermutigen, genauer hinzuschauen. Denn wir brauchen gesellschaftlich gesehen eine viel größere Sensibilität bezüglich dieses Themas. Wenn man sich die Statistiken anschaut, ist Partnerschaftsgewalt um uns herum verbreiteter, als uns das bewusst ist. Und nur, wenn uns das bewusst wird, können wir uns die richtigen Fragen stellen bzw. genauer hinsehen“, erzählt die Regisseurin. „Dennoch wird bis heute in den Familien meist darüber geschwiegen, insbesondere weil häusliche Gewalt stark mit Scham verbunden ist. Es passiert nur selten, dass Frauen über ihre Erfahrungen mit Gewalt berichten. Dass meine Großmutter heute darüber spricht, ist etwas, dass hoffentlich andere ermutigt, über ihre Gewalterfahrungen zu reden. Mit ihrer Gesprächsbereitschaft wird dieser Film einen Beitrag leisten, auch das gesellschaftliche Schweigen zu brechen.“

HOME SWEET HOME ist ein beeindruckendes Stück privater Dokumentation der Nachkriegszeit.

HOME SWEET HOME – Vorführungen DOK Leipzig 2023
11. Okt. 2023, 17:00 @ CineStar 4
12. Okt. 2023, 21:00 @ Cinémathèque
14. Okt. 2023, 21:00 @ CineStar 5

Genre: Dokumentarfilm
Produktionsland/Jahr: Deutschland 2023
Themen Persönliche Geschichte, Erinnerung, Gewalt gegen Frauen, Menschenrechte
Regie: Annika Mayer
Produzent*innen: Annika Mayer, Jakob Krese
Cinematography: Jakob Krese
Montage: Annika Mayer
Sound Designer: Gaston Ibarroule
Länge: 68 min
Sprache: Deutsch
Drehorte: München [Heilbronn]
Produktionsfirma: Majmun Films

Annika Mayer – Regisseurin, Editorin, Produzentin

Annika Mayer ist Filmemacherin und lebt in Berlin. Sie studierte Filmmontage an der Filmuniversität Konrad Wolf und promovierte in Sozialanthropologie. Basierend auf ihrer Feldforschung in Delhi produzierte und realisierte sie die Web-Doku ELDERSCAPES. 2019 co-gründete sie Majmun Films, um Dokumentar- und Kurzfilme zu entwickeln. Sie ist die Editorin und Produzentin der Kurzfilme LA ESPERA, der auf dem IFFR 2020 uraufgeführt wurde, und FIRST PACKAGE FOR HONDURAS, der auf dem Visions du Réel 2022 seine Premiere feierte. Sie produzierte auch den preisgekrönten Dokumentarfilm LO QUE QUEDA EN EL CAMINO, der auf internationalen Festivals lief (u. a. Guanajuato International Film Festival, DokLeipzig, Thessaloniki Documentary Festival, Docs Against Gravity, Dokfest München, DocAviv). Derzeit produziert sie die Dokumentarfilme CARAVANERSAS, THE GODS MUST BE MISTAKEN und MAOMI (AT). HOME SWEET HOME ist ihr Debütfilm als Regisseurin.

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