Sick Girls
Regie: Gitti Grüter
Deutscher Wettbewerb Dokumentarfilm
Dokumentarfilm
Deutschland
2023
79 Minuten
Deutsch, Schweizerdeutsch
Mit „Sick Girls“ nähert sich die Schweizer Filmemacherin Gitti Grüter ihrem eigenen Thema an: ADHS. Die Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörung. Früher wurde ADHS vor allem bei Kindern, insbesondere bei Jungen diagnostiziert, die in der Schule nicht stundenlang sitzen bleiben und sich auf vollgeschriebene langweilige Arbeitsblätter konzentrieren konnten. Heute wissen wir vieles mehr darüber, unter anderem, dass a) Mädchen genauso betroffen sind, das aber seltener auffällt, weil sie die ADHS-Symptome häufiger maskieren, also quasi verstecken, dass b) Erwachsene genauso häufig betroffen sind, zum Teil aber Strategien entwickeln konnten, die Symptome zu verdecken und dass c) ADHS eine vererbte Botenstoffstörung im Gehirn der Betroffenen ist. Ich hoffe, ich habe das halbwegs richtig formuliert so. ADHS kann viele, unterschiedlich stark ausgeprägte Symptome aufweisen: Probleme mit der Aufmerksamkeitssteuerung (leichte Ablenkung zum Beispiel), Hyperaktivität und Impulsivität (zum Beispiel Wutanfälle etc.). ADHS-Betroffene sind bis heute einer gesellschaftlichen Diskriminierung ausgesetzt, aus vielerlei Richtung: durch ein Schulsystem, das auf Leistung setzt, zwar am Bedarf der Gesellschaft vorbei unterrichtet, aber dennoch die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten von Kindern schlicht ignoriert. Durch Menschen, die behaupten, Kinder mit ADHS seien schlicht schlecht erzogen. Durch Menschen, die den Nutzen lange erprobter und stets weiterentwickelter Medikamente, die vielen ADHS-Betroffenen helfen können, schlecht reden. Durch die Behauptung, dass ADHS eine Modediagnose sei, die heute immer häufiger gestellt würde, um ungeliebte, zapplige Kinder ruhig stellen zu können. Dabei blieb der Großteil der ADHS-Betroffenen früher einfach unerkannt und undiagnostiziert. Diese Kinder hatten dann typischerweise eine schreckliche Schulkarriere durch ein Schulsystem, das sie gequält hat, abgeschoben auf Haupt- und Sonderschulen (am schlimmsten für jene Kinder, die parallel eine gute Intelligenz oder gar eine Hochintelligenz aufwiesen), mit Zielrichtung ins soziale Aus.
Gitti Grüter untersucht in „Sick Girls“ die Auswirkungen von ADHS auf erwachsene Frauen, also der Personenkreis, von dem man noch bis vor relativ wenigen Jahren dachte, dass er nun überhaupt nicht von ADHS betroffen sein könnte. Wir lernen völlig unterschiedliche und auch unterschiedlich betroffene Frauen kennen: Eine Frau, die sagt, dass sie, wenn sie es sich aussuchen könnte, nie auf ihre ADHS verzichten würde. Eine Frau, die durch ihre ADHS Schwierigkeiten mit der Erziehung ihres Kindes hatte, das daraufhin im Heim landete – eine der bedrückendsten Geschichten, die der Film erzählt. Wir erfahren viel von unterschiedlichen Ausprägungen und unterschiedlichen Wahrnehmungen der Frauen über ihre ADHS. Wir begleiten die Filmemacherin selbst bei ihrer ADHS- Diagnose mit einem Psychiater, bei den Gesprächen über ihre Konzentrationsproblematik, bei den Erinnerungen ihrer Mutter usw.
Das klingt ein kleines bisschen wie eine systematische Dokumentation über das Phänomen ADHS bei erwachsenen Frauen. Quasi eine Medizindoku aus der Wissenschaftsredaktion eines öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders. Es ist aber eine Ko-Produktion mit dem kleinen Fernsehspiel des ZDF – und das ist für mich das spannende an dieser Doku: „Sick Girls“ ist sozusagen Film gewordene ADHS. Die Dokumentation ist viel Chaos, arbeitet assoziativ, hat sozusagen seine eigene Reizfilterstörung, bisweilen eine erzählerische niedrige Frustrationstoleranz. Die Symptome von ADHS quasi als filmisches Erzählmittel. Vielleicht eine gewollte Provokation für neurotypische Menschen, zumindest ein ironisches Spiel mit der gesellschaftlichen Wahrnehmung und Stigmatisierung von ADHS, insbesondere wenn auch noch Genderklischees ins Spiel kommen.
Das ist eine bewusste Zumutung für die ZuschauerInnen – und das ist auch das, was an dieser Doku so großartig ist: Es ist ein sperriges, ungemütliches Stück Film, das es ins Programm des DOK Leipzig Festivals geschafft hat – und das es, umso überraschender, auch ins Programm des öffentlich-rechtlichen Fernsehens schaffen wird. Ein starker Film, bei dem Inhalt und erzählerische Form so wunderbar korrespondieren.