Nach “METROPOLIS, BERLIN”, dem mit dem Deutschen Fotobuchpreis in Silber ausgezeichneten Schwarzweißband über die deutsche Hauptstadt („Mit diesem Buch lernt man Berlin neu kennen“, FAZ) erscheint nun beim Berliner Lunik-Verlag Barbara Wolffs neuer Bildband „NEW YORK, SIDEWALK CLOSED“. Barbara Wolff, Jahrgang 1951, stammt aus Kyritz in der Ostprignitz – nördliches Brandenburg, anderthalb Stunden nordwestlich von Berlin, damals DDR. Das fotografische Handwerk (und die Kunst) erlernte sie erst im väterlichen Betrieb in Kyritz, später studierte sie an der traditionsreichen Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig (Gründung im Jahr 1764), die Liste der berühmten Dozenten und Absolventen in deren Geschichte ist lang: Neo Rauch, Thomas Billhardt, e.o. plauen, Evelyn Richter, Günter Rössler, Gundula Schulze Eldowy und viele mehr. Im Jahr 1985 siedelte sie, so die nüchterne Formulierung in ihrer Vita, nach München über. Es folgte die Tätigkeit für einen Münchner Fachkamerahersteller, etliche fotografische Reisen, Workshops, Lehrtätigkeiten und Ausstellungen in Berlin, München, Arles, Genf, Bordeaux, Belém und mehr. Seit 2011 lebt sie in Berlin.
In „NEW YORK, SIDEWALK CLOSED“ zeigt Barbara Wolff nun ihre wunderbaren Schwarzweißaufnahmen von einem New York-Aufenthalt im Juni 2023 – nach der Pandemie. Wie schon bei ihrem Berlin-Buch spielten interessanterweise soziale Medien dabei eine große Rolle: Sie veröffentlichte Aufnahmen auf Instagram, trat mit den Followern in Kontakt und traf sich dann auch mit New Yorker Fotografen, denen sie auf Instagram begegnet war und zog mit ihnen durch die Stadt. Wolff wohnte in verschiedenen Unterkünften in mehreren Boroughs, um einen fotografischen Überblick über die ganze Stadt zu bekommen. Sie strukturiert das Buch lose thematisch in Kapiteln: Liberty, Marry me, You are here, Lunch break, Sidewalk closed, Yes, we can, Play with me, Welcome to hell und See you.
Barbara Wolff zeigt uns New York in Straßenfotografien, nimmt die Stadtlandschaft auf, zeigt die Menschen in ihrem Alltag, bleibt dabei meistens ein paar Schritte entfernt, um auch die Wirkung der Stadtarchitektur ins Bild zu nehmen. Dabei bleibt sie streng beim Hochformat, eben um die Menschen im Vordergrund in Beziehung zur architektonischen Vertikalen zu setzen – überzeugend wie konsequent sie bei der Formatwahl bleibt. Das Schwarzweiß verleiht den Bildern eine Zeitlosigkeit, die aber die Gegenwart nicht vergisst. Ich mag das Schwarzweiß hier sehr, obwohl ich selbst ja in meinen eigenen Bildern New Yorks die Farbe nicht missen mag. Neben den Bildern, die man zeitlich nicht einordnen kann (würde man nicht zum Beispiel den einen oder anderen Wolkenkratzer erkennen, der neueren Datums ist), findet man die Gegenwart in neuen, ungewohnten Perspektiven und Motiven von neu entstandenen Aussichtsplattformen, zum Beispiel „The Edge“ (S. 27), in den Bildern vom neu eröffneten „Oculus“, aber vielleicht auch in den Spuren der während der Pandemie gewachsenen Obdachlosigkeit, die Barbara Wolff nicht ausblendet und in einigen Fotos andeutet.
Die Fotografin ist auch Touristin in der Stadt, Besucherin, wie man an den Fotos vom Times Square, von der Fähre zur Freiheitsstatue, vom mittlerweile auch touristischen Harlem sieht, aber nach vier Wochen in einer Stadt wie New York entdeckt man halt auch die Nebenstraßen, die Wohngebiete, jene Orte, in die der Tourist normalerweise nicht gelangt. Dazu gehören die Bilder vom Coleman Skatepark in der Lower East Side unter der Manhattan Bridge, oder etwa die Alltagsfotografien aus New Yorker Parks.
Zu den besten Fotos des Buchs zählen jene Fotos, die in mehreren Bildebenen die Vordergründe mit der Vertikalität der Stadt verknüpfen: etwa jenes Bild, das zwei coole Motorradfahrer auf der Brooklyn-Bridge mit dem Durcheinander der Stadt- und Brückenarchitektur im Hintergrund in Verbindung setzt (S. 97). Oder jene verträumte – oder ermüdete Passagierin einer Statue of Liberty Cruises-Fähre, die im Trockenen sitzt, mit jenen Wartenden draußen im Regen verknüpft, die wir durchs Fenster sehen, dazwischen die Scheibe der Fähre, an der der Regen hinabrinnt (S. 111). Es gibt auch einige Nachtfotos, denen dies gelingt vor allem aus Harlem (S. 36, oder das Bild vom Apollo Theater, S. 129) – gerne hätte ich noch ein paar Nachtfotos mehr gesehen!
Barbara Wolff erlaubt es sich in zwei Bildern die visuelle Struktur der Großstadt durch Doppelbelichtungen bzw. Überlagerung zweier Aufnahmen zu verstärken: Es sind die Bilder aus der berühmten Grand-Central-Station, die die strenge Gitterarchitektur der Fenster der Bahnhofshalle mit dem Chaos der Menschenmenge verknüpft und verstärkt. In jenem Foto von „Summit One Vanderbilt“ hinunter auf die nächtliche Großstadt, greift sie diese Idee wieder auf, indem sie die „Lichter der Großstadt“ quasi verdoppelt.
Am allermeisten mag ich aber jene Bilder, die von den Menschen erzählen: die drei Damen mit ihren besonderen Frisuren auf der Staten Island-Fähre, über deren Schultern wir aufs ferne Manhattan schauen (S. 17), das Paar auf der Picknickdecke in DUMBO in Brooklyn, samt Sektflasche, Pizzakarton usw. (S. 33), das innige Punk-Pärchen in West Village (S. 34) oder etwa die „nummerierten Ladies“ in der Fifth Avenue (S. 65) – zwei aufgebrezelte junge Damen mit umgehängten Schildern, die auf einen Model-Wettbewerb schließen lassen.
Daniel Blochwitz, Kurator, Autor und Verfasser des Vorwortes beschreibt Barbara Wolffs Herangehensweise: „Belohnt wird der beherzte Flaneur durch eine Stadt, die eigentlich ständig Gelegenheit bietet, die Sedimente der schon vorhandenen Bilder durch immer neue und sich stets verändernde Situationen innerhalb ihres urbanen Flusses aufzurühren. Am Ende werden sich keine zwei Bilder gleichen, selbst wenn sie quasi an derselben Stelle und im gleichen Zeitraum aufgenommen wurden.“
Natürlich ist New York so sehr fotografiert worden, wie kaum eine andere Stadt auf der Welt. Natürlich hat beinahe jeder nennenswerte Fotograf, der dem Reisen zugetan war, auch irgendwann New York fotografiert – eben auch die europäischen Fotografen. Henri Cartier-Bresson war zum Beispiel 1946 da, Arno Fischer noch zu DDR-Zeiten, 1987, um weitgehend willkürlich zwei Fotografen herauszugreifen. Es geht die Rede davon, New York sei „totfotografiert“. Ich mag diesen Begriff nicht. Eine gute Fotoserie erzählt immer auch etwas über den Fotografen, die Fotografin. Eine gute Fotoserie hat wo etwas wie einen individuellen Stil entwickelt. Das New York, das Saul Leiter fotografiert hat ist eben ein anderes New York als jenes, das Joel Meyerowitz fotografiert hat. Das hat alles seine Berechtigung, solange man eine individuelle Geschichte erfährt, und solange man eine eigene Bildsprache gezeigt bekommt. Und das gelingt Barbara Wolff. Natürlich sehe ich in den Bildern, dass sie eine Besucherin der Stadt ist, aber oft ist es ja auch so – zumindest geht es mir so, dass man als „Zugereister“ mehr sieht als diejenigen, die am entsprechenden Ort leben. Mir jedenfalls gelingt es nicht, von Berlin innerhalb von vier Wochen genug Aufnahmen zu machen, dass daraus ein Buch werden könnte. Daniel Blochwitz formuliert es wieder sehr schön: „Dennoch und ganz gleich, ob man nur zu Besuch in New York ist, für immer hierzubleiben gedenkt oder schließlich versucht, anderswo Fuß zu fassen, die Stadt wird immer ein Teil des eigenen Lebens bleiben, und man wird zur Erzählung New Yorks beigetragen haben.“
„NEW YORK, SIDEWALK CLOSED“, dessen Buchdesign übrigens von der Fotografin selbst gestaltet wurde, überzeugt mich und wird einen Platz in meiner „New York“-Kollektion einnehmen. Lunik bringt das Buch in vier verschiedenen Titelvarianten heraus – eine großartige Idee.
Barbara Wolff
NEW YORK, SIDEWALK CLOSED
Schwarz-Weiss-Fotografien aus New York aus dem Jahr 2023.
Mit einem Essay von Daniel Blochwitz, deutsch und englisch.
144 Seiten, 21 x 28 cm, 112 Schwarz-Weiss-Fotografien in Triplex-Druck, Fadenheftung, Hardcover mit Leinen, gedruckt in der DZA Druckerei zu Altenburg, Layout Barbara Wolff
ISBN 978-3-9822385-1-7
Dein Artikel über „New York Sidewalk Closed“ von Barbara Wolff ist fantastisch! Du schaffst es, die Gestaltung und Atmosphäre so lebendig zu beschreiben, dass ich mich beim Lesen direkt in die Straßen von New York versetzt fühle. Vielen Dank für diesen inspirierenden Einblick!