
TARANTISM REVISITED von Anja Dreschke und Michaela Schäuble beim DOK FEST LEIPZIG 2024
D, CH 2024
105 Minuten
Apulien, weit im Süden Italiens, im Jahr 1959. Scheinbar ganz normale Frauen in irgendeinem Dorf auf dem Land. Ekstatisch, wie im Fieberwahn tanzen sie in einer kleinen Kirche. Sie wälzen sich wie verrückt herum, kriechen, klettern, springen, tanzen. Eine italienische Anthropolgin machte sich samt einem Forscher- und Kamerateam auf den weg damals, um das zu erforschen, was da passiert. Es wird gefilmt, interviewt, fotografiert, das was der Tarantismus genannt wird. Es habe mit Spinnenbissen zu tun, oder mit Skorpionbissen? Oder mit Epilepsie? Heute werde Tarantismus als psychische Erkrankung in Verbindung mit Massensuggestion betrachtet, sagt Wikipedia, ein tatsächlicher Zusammenhang mit dieser oder einer anderen Spinnenart gelte als unwahrscheinlich.
Die Filmemacherinnen, Dreschke und Schäuble, durchsuchen die Archive nach Bild und Filmmaterial, nach Tonmitschnitten, die damals entstanden sind und kompilieren das Material gemeinsam mit heute entstandenen Filmaufnahmen und Interviews zu einem essayistischen, künstlerischen Dokumentarfilm. Es geht um die Rolle der Frauen damals, um die Verbindung von Frauen und Wahnsinn, um die Deutung durch Männer heute. Und es geht um den unvereinbaren Widerspruch von Wissenschaft und Religion. Es ist geradezu atemberaubend, welch archaische Riten kirchliche Indoktrination bis in die Gegenwart bewahren kann, mitten in Europa.
Heute, immerhin, ist der Tarantismus weitgehend touristische Folklore. Ich bin nicht so sehr Freund essayistischer Dokumentarfilme, aber Dreschke und Schäuble gelingt ein beeindruckendes poetisches Dokumentarwerk, dem es gerade wegen seiner essayistischen Herangehensweise gelingt, mir das zu vermitteln, was ich gerne von solch einem Dokumentarfilm bekommen möchte: nämlich zu lernen, worum es beim Tarantismus geht, zu sehen, wie das aussieht, Einblick in die frühere Forschung dazu zu bekommen etc. TARANTISM REVISITED ist ein spannender Blick auf archaische Traditionen, die es geschafft haben, bis ins 21. Jahrhundert zu überleben.
https://www.dok-leipzig.de/film/tarantism-revisited/programm
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Barbara Morgenstern und die Liebe zur Sache von Sabine Herpich bei DOK LEIPZIG 2024
Deutscher Wettbewerb Dokumentarfilm
Deutschland 2024
108 Minuten
Barbara Morgenstern ist, so der Pressetext, „Pionierin des elektronischen Wohnzimmer-Pop“, seit sechs Jahren arbeitet sie wieder a einem neuen Album, quasi Zuhause, mit Laptop auf Turnschuhkarton, daneben das Piano, das Kompositionsprogramm. Und die Mitmusiker passen sogar auch noch in die Wohnung, zum Einspielen der Tonspuren. Wir folgen Barbara von den ersten Ideen, Texten, irgendwelchen Finanzierungsgesprächen, schließlich nehmen die Melodien erste Formen an – und dann kommen eben die Musiker mit ins Spiel. Es ist wunderschön dabei zuzusehen, wie sich die Komposition entfaltet, wie an ihr gefeilt, geprobt, geübt, korrigiert, verbessert wird. Man kann Barbaras Überlegungen, Ideen, Gedanken folgen, man muss sich aber auch darauf einlassen, das sind kleine Details, an denen gefeilt und mit denen gerungen wird.
Ich kannte Barbara Morgenstern nicht, aber mich beginnt zu interessieren, wer sie ist, ich lese nach: Mein Jahrgang, geboren in Hagen, Autodidaktin, von früh an Musikerin, 1994 geht sie nach Berlin, wendet sie sich der elektronischen Musik zu, geht 2003/4 auf Welttournee durch Goethe-Institute, ist Mitglied wechselnder Bands, bringt fast jedes Jahr ein Album heraus, zuletzt aber eben mit einer sechsjährigen Lücke – dazwischen arbeitete sie für Theaterprojekte.
Jaaa, bei den Finanzierungsdiskussionen und beim Aufschreiben von Liedtexten (Bleistift) will ich jetzt nicht unbedingt dabei sein, denkt man sich zuerst, dann aber macht auch das irgendwann Sinn. Ich habe keine Ahnung vom Musik machen, spiel kein Instrument, aber ich ziehe aus dem Zuschauen bei einem künstlerischen Prozess so viel heraus, das ist zutiefst faszinierend. Ich kann das nur mit dem vergleichen, was passiert, wenn ich im kreativen Prozess beim Machen eines Fotobildbandes bin. Ich weiß noch, wie ich in einem Meeting zu fünft zwei Stunden lang mit einem Team von fünf Leuten darüber diskutiert habe, aus welchen Farben und aus welchem Papier das Cover meines Box-Buchs „Punch“ bestehen soll. Damit ist es vielleicht ein kleines bisschen vergleichbar. Die Musik wird mit Worten besprochen – und diese Worte, scheint mir, muss man finden können. Das ist sehr faszinierend.
Sabine Herpich gelingt es jedenfalls, den kreativen musikalischen Prozess filmisch abzubilden, und das ist zutiefst beeindruckend.
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The Other One von Marie-Magdalena Kochová
Ta druhá
Panorama: Mittel- und Osteuropa
Dokumentarfilm
Tschechische Republik, Slowakei 2024
87 Minuten
Berührender Dokumentarfilm über zwei Schwestern in Tschechien, für die sich ihr Leben bald ändern wird, die eine hat gerade ihr Abitur geschafft und wird bald nach Brno ziehen, um zu studieren, die andere, Autistin, wird bald zur Schule gehen und sieht ihre Schwester nur noch hin und wieder.