„Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass der Holocaust etwas ist, was der jüdischen Kultur angetan wurde. Manchmal bin ich radikal und provokant und sage, wenn man das Wort ‚Jude‘ hört, dann denkt man an Leichen. Und dann heißt das, dass Hitler den Krieg in deiner Vorstellungswelt gewonnen hat. Es reicht nicht, über diese Zeit Bescheid zu wissen, die Fakten zu kennen, ein wissenschaftliches und historisches Verständnis zu haben. Wir müssen eine direkte, persönliche, menschliche, körperliche Beziehung zu dem haben, was passiert ist. Und die Kunst versetzt uns in die Lage, das zu tun. Statt also Antworten zu finden, die die Tür zu dieser Zeit und zu diesen Menschen schließen, versuchen wir, Antworten zu finden, die diese Türen öffnen, die die Beziehung zu diesen Menschen lebendig hält und sie wachsen und verändern lässt. Und genau das ist es, was wir mit diesem Projekt machen“, sagt Alan Bern, einer der Musiker, dem wir in Christoph Weinerts Dokumentarfilm „I dance, but my heart is crying“ begegnen. Verzeihung, dass ich diese Filmbesprechung mit einem solch langen Zitat beginne, aber Alan Bern drückt damit genau das aus, was gleich in diesem Film erzählt werden wird, und warum das so wichtig ist, und warum es auch so wichtig ist, diesen Film heute zu sehen.
Aber beginnen wir von vorne, worin besteht denn das Projekt, von dem Alan Bern spricht? Es geht um Musik, die in den 1920ern und 1930ern geschrieben, komponiert, aufgeführt, auf Schellackplatten gepresst wurde, jüdische Musik, in Deutschland, in Berlin. Jüdische Künstlerinnen und Künstler waren damals zunächst zutiefst in die deutsche Kultur integriert, mit ihr verbunden, waren ein bedeutender Teil des Berliner Kulturlebens. Die jüdische Musik jener Zeit erzählt sowohl von jüdischer Tradition als auch von der damaligen Berliner Gegenwart, erzählen Daniel Kahn, Sänger und Sasha Lurje, Sängerin. Dass wir überhaupt von diesen Liedern erfahren und diesen Dokumentarfilm sehen können, ist zuerst einem Mann zu verdanken, der mit großem Eifer seiner Leidenschaft nachging – alte Schallplatten zu sammeln, und dafür tief in Archive eintauchte: Rainer E. Lotz. Damals, 1933, als die Nazis die Macht ergriffen hatten, erzählt Lotz, wurden die jüdischen Kulturschaffenden in Deutschland mit einem Berufsverbot belegt. Da die Künstlerinnen und Künstler aber weltweit hervorragend vernetzt waren, kam es zu einem Skandal, der die Nazis zu einem sonderbaren „Kompromiss“ trieb: Die Jüdinnen und Juden durften weiterhin kulturell aktiv sein, allerdings nur im Rahmen des sogenannten „Jüdischen Kulturbundes“, also nur an Orten, an denen ausschließlich Juden zugelassen wurden. Irgendwo las Lotz alte Anzeigen aus jener Zeit, in denen die Platten zweier Berliner Firmen angeboten wurden: Lukraphon und Semer. Er begann etwas über die beiden Firmen zu recherchieren – und fand zunächst – nichts. Ich nehme an: Zuallererst hat er einmal gegoogelt – und es gab Null Funde im Internet. Man glaubt ja immer, im Internet müsste mittlerweile auf Zigmilliarden Seiten alles zu finden sein. Ist es aber nicht immer, also war seine Neugierde erfacht und er stieß auf einen Moritz Lewin, Besitzer von Lukraphon, Geschäftsmann in der Friedrichstraße, sowie Hirsch Lewin, den Besitzer des Plattenlabels Semer, der im Scheunenviertel lebte, jenem jüdisch geprägten Viertel in der Nähe des Alexanderplatzes, in der Gegend der heutigen Münzstraße, Weinmeisterstraße, Torstraße etc. Beide gründeten ihre Plattenfirmen im Jahr 1934 und obwohl sie den gleichen Nachnamen trugen, hatten sie nichts miteinander zu tun. Spätestens jetzt entbrannte wohl die Neugierde von Rainer E. Lotz endgültig: Was war das für Musik? Gibt es noch irgendwo Schallplatten der beiden Firmen? Er fand heraus, dass die beiden bis 1936 sehr aktiv waren, Berlin gab sich weltoffen, schließlich waren die Olympischen Spiele in der Stadt, danach war es mit der Weltoffenheit vorbei, wobei die beiden Firmen noch eine Zeitlang weiter produzieren konnten. Mit der Reichspogromnacht hatte das alles ein Ende. Die Geschäfte wurden verwüstet, die Pressvorlagen für die Schallplatten zerstört.
Einer der Musiker hieß Pinkas Lavender und er sang ein trauriges jiddisches Lied, das in der jüdischen Kultur weltweit berühmt ist und über einen Familienvater erzählt, der in die USA auswandert, um dort Geld zu verdienen, während er seine Familie in der Heimat zurücklassen muss: „Lebka fährt nach Amerika“. Mit viel Neugierde und einer Handvoll Namen von Künstlern, die er herausgefunden hatte, zog Lotz los, in die Archive, auf der Suche nach Schallplatten von Lukraphon und Semer. Weltweit. Aber: das war zu viel, er brauchte Unterstützung und fand unter anderem einen Historiker und Plattensammler aus Israel, der ihm vielleicht helfen konnte: Ejal Jakob Eisler. Er war sofort angetan, aber, so meint er, wenn er gewusst hätte, wieviel Arbeit da auf ihn wartet, wüsste er nicht, ob er noch einmal mitgemacht hätte. Und was für Abenteuer Ejal dabei erlebt hatte: Er leistete auf den Golanhöhen seinen Militärdienst ab, als er hörte, dass irgendwo das Haus eines Schallplattensammlers, der verstorben war, abgerissen werden sollte. Er bettelte um Sonderurlaub, eilte hin, die Bulldozer standen schon parat, es gab keinen Strom, kein Wasser mehr im Haus und er bat, noch einmal hineinzudürfen. Er ging in aller Eile die Platten durch – und fand wahre Schätze, unter anderem bis dahin unbekannte Semer- und Lukraphon-Platten. Fast der ganze Katalog der beiden Firmen wurde so in mühevoller Arbeit zusammengetragen, restauriert und archiviert – und der Welt zugänglich gemacht. Dora Gerson war eine der Sängerinnen, „Die Welt ist klein geworden“ ist eins ihrer Lieder, ein großartiges, modernes Lied, im Technikfortschritt, in der frühen Globalisierung, Lieder, die sie auch voller Doppeldeutigkeit und Andeutungen vortrug.
Und dann fehlte noch eins: Die Musik, die nun wiederentdeckt war, musste nun in der Gegenwart erneut zum Leben erweckt werden, und dafür gründete sich das „Semer Ensemble“. Musiker wie Daniel Kahn, dem oben schon erwähnten Sänger, Sasha Lurje, der Sängerin, und der Sänger Lorin Sklamberg taten sich mit anderen Musikern, wie etwa dem Trompeter Paul Brody zusammen und sie erzählen Geschichten, wie Menschen auf sie zukamen und meinten, dass sie diese Musik nie gemocht hatten, aber wie sie nun präsentiert würde, wäre so toll, so lebendig. Brody erzählt, wie er mit seiner Trompete Farbe, Atmosphäre zu dieser Musik beiträgt, eine Musik die eigentlich vor allem vom Gesang lebt. Acht Musiker sind sie, eigentlich bräuchten sie 15 oder 20, aber das kann sich keiner leisten.
Christoph Weinerts Dokumentarfilm ist eine wundervolle Wiederentdeckung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in Berlin, die beinahe mit der Judenverfolgung und der Reichspogromnacht zerstört und für immer vergessen worden wäre, hätten nicht Menschen wie Rainer Lotz so voller Begeisterung nachgeforscht, hätten nicht die Musiker des Semer Ensembles dieser Musik wieder Leben eingehaucht. Es ist ein grandioser, wichtiger Film, ein Film voller Anekdoten und Geschichten, eine traurig-schöne Feier jüdischen Kulturlebens von vor fast hundert Jahren.
Ab 7. November 2024 ist „I dance, but my heart is crying” in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen, in Berlin etwa im Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz und im Klick Kino in der Windscheidstraße.
CREW (ÜBERSICHT)
BUCH UND REGIE CHRISTOPH WEINERT
KAMERAFÜHRUNG THOMAS FRISCHHUT, JÜRGEN HECK
KAMERA BORIS HEILAND, MICHAEL WEIHRAUCH, HANS OLIVER WOLF
KAMERA-ASSISTENZ YANNICK SCHMEIL, HOLGER WIMMER
BELEUCHTUNG MARTIN KÖNIG
SOUND (FILM) CHRISTIAN LUTZ
SOUND (BÜHNE) CASPAR KONTER
SOUND DESIGN MATTHIAS MÜNSTER
ILLUSTRATION FILIP ROOLFING
GRADING JAN MAYER
PRODUZENT KLAUS FLEMMING
KO-PRODUDUZENT YVES KUGELMANN und ANDRÉ BOLLAG
EINE PRODUKTION VON FLEMMING POSTPRODUKTION
IN KO-PRODUKTION MIT JMAG:productions Switzerland
und dem ZDF in Zusammenarbeit mit ARTE
FÖRDERUNG CLAIMS CONFERENCE, New York