HUNDERT JAHRE HÖRSPIEL von Günter Peters im Brill Verlag

HUNDERT JAHRE HÖRSPIEL von Günter Peters im Brill Verlag

Hundert Jahre Hörfunk wird derzeit gefeiert und ebenso hundert Jahre feiert die wohl jüngste literarische Gattung, das Hörspiel, das im Umfeld der technischen Entwicklung des Radios entstanden ist. Hans Bredow ist der Name, der mit den Frühformen des Radios und des Hörspiels verknüpft ist – und zwar bereits zu Zeiten des Ersten Weltkriegs. „Die Frühgeschichte des deutschen Rundfunks und das erste Kapitel einer Gattungsgeschichte des Hörspiels wurden durch die militärische Katastrophe des Krieges eröffnet und durch die politische Katastrophe von Hitlers ‚Machtübernahme‘ beendet“, schreibt Günter Peters in seinem monumentalen Standardwerk „Hundert Jahre Hörspiel. Geschichte und Geschichten“, das gerade im Brill Verlag erschienen ist, 776 faszinierende Seiten über die – man muss den Titel etwas präzisieren – deutsche Geschichte des Hörspiels, auch wenn bisweilen über die Grenzen geschaut wird, etwa auf das wohl berühmteste aller Hörspiele, nämlich Orson Welles‘ „War of the Worlds“. Zurück zu Bredow: Seine frühe Rundfunkgeschichte ist schon erstaunlich wechselhaft, erst wird sein Programm wegen Missbrauch von Heerestechnik verboten, dann, bald nach dem Krieg ist er schon in Eberts Auftrag für das „Reichsrundfunkwesen“ zuständig, erstaunlich, dass der Reichspräsident so früh die politische und gesellschaftliche Bedeutung des Rundfunks erkannt hat. Noch ist der Rundfunk von Seiten der Siegermächte eigentlich verboten, da sendet er dennoch vom berühmten Senderstandort Königs Wusterhausen Rundfunkprogramme, darunter sogar Liveübertragungen von Konzerten.

Innerhalb kürzester Zeit wird der Rundfunk zum Massenmedium, von 1580 zahlenden Rundfunkteilnehmern zu Beginn des Jahres 1924 bis zu einer Million im zweiten Halbjahr desselben Jahres. Erste Hörspiele gab es da bereits auf Schallplatte, etwa ein frühes Titanic-Hörspiel aus dem Jahr 1913. Bald gab es im Rundfunk sogenannte „Sendespiele“, Vorformen des Hörspiels, Bearbeitungen von Romanen und Dramen durch das Radio. Als erstes wirkliches Hörspiel weltweit gilt das bei Radio London Anfang 1924 gesendete „A Comedy of Danger“ von Richard Hughes, ein Untertagedrama, das im Folgejahr auch im deutschen Rundfunk live aufgeführt wurde und in späteren Wiederaufführungen und Neubearbeitungen erhalten ist. Bei der Erstaufführung animierte man die Hörer wohl, das Hörspiel in absoluter Dunkelheit anzuhören. Auf der Internetseite des Verlags zum Buch sind 35 Ausschnitte aus Hörspielen zu hören, darunter auch Ausschnitte aus zwei Neubearbeitungen von Richard Hughes‘ „Gefahr“ aus den 60erjahren, die eine beeindruckende Vorstellung der Wirkung des Hörspiels geben – beklemmend, düster, furchteinflößend.

Überhaupt spielt die „Dunkelheit“ im frühen Hörspiel eine wichtige Rolle. Mein persönlicher Einschub: In der Tat hat eines der intensivsten Hörspielerlebnisse meiner Kindheit mit Dunkelheit zu tun: Es ist jenes Tom Sawyer-Hörspiel der Siebziger Jahre, das ich auf Schallplatte besaß und es geht um die Szene, in der Tom und Becky sich in der Höhle verlaufen und in Todesangst ihre letzten Reserven an Essen und Streichhölzern nutzen. Ich muss das unbedingt wieder einmal anhören.

Ebenso mit der Dunkelheit verknüpft ist das Zugkatastrophenhörspiel „Bellinzona“ des Berliner Schauspielers Rolf Gunold aus dem Jahr 1924. Das Hörspiel wurde jedoch nicht ausgestrahlt, weil der ehemalige Vizekanzler Karl Helfferich unter den Opfern war. 1978 wurde das Hörspiel rekonstruiert, ein Ausschnitt aus der Rekonstruktion liefert eine Vorstellung des ursprünglichen Hörspiels. Günter Peters schreibt dazu: „Zur Erwartungssteuerung und Spannungserzeugung setzt Gunold mehrere konventionelle Motive ein. Auf der einen Seite gibt es tragische Zufälle (…) der Lokführer, der sich zunächst auf seine Erfahrung beruft, bekommt fast dämonische Züge, die kurz darauf, als er den entgegenrasenden Zug erblickt, zu einer verdutzten Reaktion zusammenstürzen.“ In der Tat scheint, so legt es auch der Hörspielausschnitt nahe, das Hörspiel Elemente und Charaktere des späteren Katastrophenfilms vorwegzunehmen, etwa den Warner, der nicht ernst genommen wird, der noch in den Katastrophenfilmen der Gegenwart selten fehlt. Aber in jedem Fall deutet der Hörspielausschnitt auf die Wirksamkeit und die geschickte Themenauswahl der frühen Hörspielproduzenten hin. Erstaunlich eigentlich, dass schon zu Beginn der Geschichte dieses Genres solch wirkungsvolle Geschichten erzählt wurden, die die Stärke des Mediums von vorneherein nutzten. Das geht sogar deutlich über die Wirkungseffekte des frühen Kinos hinaus, etwa im Vergleich zum ersten Stück Film der Filmgeschichte, dem einfahrenden Zug der Brüder Lumière, das effektvoll und schockartig auf die Zuschauer in den Pariser Kinematographenvorführungen gewirkt hat, aber eben noch keine erzählerische Entwicklung enthielt.

Zu den bedeutenden Hörspielen der späten 20er und frühen 30ern gehören schließlich Brechts „Lindberghflug“, Walter Ruttmanns „Weekend“ (1930) und Alfred Döblins „Die Geschichte vom Franz Biberkopf“. Ruttmann war ja der Regisseur eines der innovativsten deutschen Stummfilmwerke, der Montagefilm „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ aus dem Jahr 1927. Nach einem abstrakten Film, „Lichtspiel Opus 1“, Werbefilmen und Regieassistenzen und nach der bis heute gefeierten Großstadtsinfonie arbeitete er eben auch im Hörspielbereich, „Weekend“ wurde als „photographisches Hörspiel“ angekündigt. Man suchte noch, das Ganze verbal zu fassen, als Klangbild, Blindfilm, Tonphotographie oder Hörfilm, als das Werk dann im Juni 1930 im Rundfunk uraufgeführt wurde. Später gab es in der Tat auch Aufführungen in Kinos. Das Werk verschwand, wurde in den 1970er Jahren wiedergefunden und erneut aufgeführt. Man kann sich die elfminütige Tonmontage auf einschlägigen Tonstreamingdiensten, Spotify und Co., anhören. „Ist Weekend aus heutiger Sicht ein avantgardistischer Vorbote der Ars Acustica, ein kubistisches Hörstück zwischen Futurismus und musique concrète – oder doch ‚nur‘ ein humoristisches Klangbild?“, fragt Günter Peters. In der Tat hat die Toncollage Humorvolles, ich hatte eine Assoziation: Ich musste an die Verwendung des Tons in Jacques Tati-Filmen denken, dessen Witz ja durch Wiederholung, Hervorhebung, Übertreibung einerseits unabhängig, andererseits in Überlagerung des Filmbildes entsteht. Das Filmische habe ich hier bei Ruttmann also in der Tat auch gesehen.

Zur Abwesenheit des Visuellen muss sich diese neue Kunstgattung nun in den Zwanzigerjahren irgendwie verhalten – und sie nutzt die Reduktion der Möglichkeiten, wie eben schon bei Ruttmann gesehen, kreativ. Das Medium Film ist zu jener Zeit bereits immerhin mehr als 30 Jahre alt, während nun die neue literarische Gattung Hörspiel ein knappes Jahrzehnt hat, sich auszuformen, auszuprobieren, bevor die „Machtergreifung“ der Nazis für das Hörspiel einen noch bedeutenderen Einschnitt darstellt als etwa für den Film. Mit ihr wird die Vielfalt und der künstlerische Wagemut des Hörfunks erstickt. Der Rundfunk dient der Propaganda und ist damit Goebbels unterstellt. Ein paar Versuche, sich nicht anzupassen gibt es, etwa von Günter Eich und Peter Huchel. Im Exil lebt das Hörspiel weiter, der vielleicht am wenigsten erforschte Abschnitt der deutschen Hörfunkgeschichte. 

Max Frisch, Wolfgang Borchert, Ernst Schnabel und Axel Eggebrecht sind die ersten Namen, die uns im Nachkriegshörspiel begegnen, ehe das Hörspiel sich mit der Aufteilung Deutschlands in zwei Staaten auch in zwei unterschiedliche Richtungen entwickelt. Max Frischs Theaterstück „Nun singen sie wieder“ wurde noch während des Kriegs im März 1945 in Zürich aufgeführt, die Uraufführung in Deutschland findet 1946 als Hörspiel bei Radio Bremen statt: „Für den Dramatiker Frisch sind es aber nicht die Pathosformeln höchster Werte und Ideale, nach denen er mit seiner Dichtung sucht, sondern die literarisch überhaupt noch möglichen Formen der Frage nach der Schuld und der Last des Gewissens und danach, ob es nach allem, was geschehen ist, für die Kriegsteilnehmer und Überlebenden noch eine Rückkehr ins ‚normale‘ Leben geben kann. Sie ziehen sich als roter Faden durch die frühen Hörspiele der Nachkriegszeit“, schreibt Peters, die beiden Hörbeispiele des Stücks liefern in der Tat eine beeindruckende künstlerische Auseinandersetzung mit der Schuld jener Zeit: „Frisch stellt die Frage der Schuld ganz konkret, verallgemeinert sie nicht zu einer existenziell tragischen Situation des menschlichen Daseins schlechthin.“

Im letzten großen Abschnitt, der mit dem Titel „Altes oder neues Hörspiel? Abbrüche, Umbrüche und Aufbrüche“ überschrieben ist, geht es dann um neue Formen und neue Gattungseinordnungen des Hörspiels, zwischen Literatur und akustischer Kunst. Es geht um Hörspielcollagen (etwa von Ror Wolf), um Musik im Hörspiel, um Mundart im Hörspiel, um „Sprachen der Gewalt im Musik-Hörspiel“, um das Hörspiel im digitalen Zeitalter bzw. in der Zeit des Internets. Im Hörbeispiel „Hörspiele werden gemacht. Ein Werkstattbericht“ von Heinz Hostnig bzw. Franz Mon aus dem Jahr 1974 erhalten wir Einblicke in die Herstellung von Hörspielen in der Zeit der Siebziger Jahre. Diese entstehen nicht am Schreibtisch, sondern im Studio, erfahren wir. Die Parallelen zur Filmentstehung werden hervorgehoben, Schnitt, Überblendung, Montage etc. „Mit der Forderung, die technischen Mittel des Rundfunks voll auszuschöpfen, ist keineswegs die Abwertung von Literatur und Schrift verbunden, eher wird einer Klärung der autonomen Möglichkeiten des Hörspiels im Umgang mit Sprache da Wort geredet“, erläutert Peters. Die Vorführung der Methoden des Hörspiels im genannten Hörbeispiel sind eindrücklich.

„Hundert Jahre Hörspiel“ gelingt es auf beeindruckende Art und Weise, sich mit dem Hörspiel der letzten hundert Jahre zu beschäftigen – und es ist ein hervorragender Auslöser für den Leser, sich durch Hörspielausschnitte, Mediatheken, Hörarchive, Streamingdienste treiben zu lassen und sich mit einer literarischen Grenzgattung zu beschäftigen, die viel zu selten im Fokus literaturwissenschaftlicher Beschäftigung lag. In meinem eigenen Literaturstudium bin ich vielleicht anderthalbmal dem Hörspiel intensiver begegnet. Und das, obwohl das Hörspiel spätestens seit Erfindung der Musikkassette in tiefem Interesse von Kindern und Jugendlichen gelegen hat – so auch bei mir, und so auch wieder bei meinem Sohn. Und genau da liegt eigentlich auch ein zumindest kleiner Kritikansatz an dem Werk: Mir ist das bisweilen etwas zu kanonbezogen. Ich hätte gerne noch viel mehr über das Hörspiel im Kinder- und Jugendbereich erfahren, aber auch im Populärbereich. Da ist wahrscheinlich auch noch ein großes Forschungsfeld offen.

„Je näher man der Gegenwart rückt, desto schwieriger ist es, Schwerpunkte, Trends, in eine bestimmte Richtung gehende Entwicklungslinien zu identifizieren. Was man aber sagen kann, ist, dass sich das Hörspiel seit den frühen 80er Jahren seine volle künstlerische Freiheit erobern konnte. Im Aufbegehren des Neuen Hörspiels gegen eine zur Verfestigung tendierenden Tradition haben sich die Hörspielmacher vom Druck des literarisch dominierten Hörspiels befreit, aber nachdem sie das geschafft haben, können sie sich ihrer Tradition auch wieder zuwenden und müssen nicht mehr mit aller Gewalt avantgardistisch sein. Neben dem akustischen Formexperiment entstehen in allen Genres, vom Kriminalhörspiel über das Mundarthörspiel, bis zur Science-fiction, originelle Arbeiten von hohem Niveau,“ stellt Peters fest. Ich werde mich jetzt jedenfalls dank der unschätzbaren Inspiration dieses Standardwerks über das deutsche Hörspiel auf die Suche nach einigen der erwähnten Werke der Hörspielgeschichte machen, aber auch auf die Suche nach den Hörspielen, die meine Kindheit und Jugend geprägt haben. Da sind dann eher Namen wie Enid Blyton zu nennen, insbesondere „Das Rätsel um den geheimen Hafen“, das vorhin schon erwähnte Tom Sawyer-Hörspiel (was habe ich mich vor Indianer-Joe gefürchtet) und dann noch ein Fritjof Nansen-Hörspiel, an das ich mich erinnern kann, müsste im Südwestfunk gelaufen sein.

Günter Peters, Jahrgang 1947, hatte von 1995 bis zu seiner Emeritierung 2010 an der TU Chemnitz den Lehrstuhl für Allgemeine, Neuere deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft inne. Mit „Hundert Jahre Hörspiel“ hat er ein unverzichtbares Standardwerk über das Hörspiel geschaffen, das für mich immer wieder zur Hand sein wird, wenn es um die deutsche Hörspielgeschichte geht. Wenn ich mir noch etwas wünschen dürfte: Ich hätte gerne das Ganze auch noch über den englischen Sprachraum – und ich würde mir einen Bilder- und Materialien-Ergänzungsband wünschen.

Und zum Abschluss noch eine Entdeckung aus dem Buch: Walter Erich Schäfers „Die Himmelfahrt des Physikers M.N.“, ein Monolog von Martin Held aus dem Jahr 1958 ist auf Spotify zu finden. Und eine der wichtigsten, immer wieder im Buch benannten Quellen ist die Reihe „100 aus 100: Die Hörspiel-Collection“ in der ARD Mediathek:
https://www.ardaudiothek.de/sendung/100-aus-100-die-hoerspiel-collection/12800327/

Hier die Liste mit den Hörbeispielen, die im Buch vorkommen:
https://brill.com/display/book/9783846769041/back-1.xml

Hundert Jahre Hörspiel
Geschichte und Geschichten

Autor:in: Günter Peters
Umfang: XVI + 776 Seiten, mit LESEBÄNDCHEN
Sprache: Deutsch
Verlag: Brill | Fink
E-Book:
Publikation: 28 Oct 2024
ISBN: 978-3-8467-6904-1
Hardcover:
ISBN: 978-3-7705-6904-5

Preis: 69€

https://brill.com/display/title/70501?language=de

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