
In der Nacht auf den 23. November 1992, Mölln in Schleswig-Holstein. Bei Brandanschlägen auf zwei von Menschen mit Migrationshintergrund bewohnte Häuser in der Kleinstadt Mölln durch Neonazis sterben drei Menschen, neun Menschen werden schwer verletzt. Die Todesopfer sind die Mädchen Yeliz Arslan und Ayse Yılmaz und ihre Großmutter Bahide Arslan. Viele Menschen sind damals erschüttert und teilen ihr Mitgefühl, ihre Trauer, ihre Scham in Briefen an die betroffenen Familien mit. “An die türkische Familie, die 3 Tote zu beklagen hat, 2410 Mölln”, so oder ähnlich sind viele dieser Briefe adressiert. Doch: Diese Briefe erreichen diese Familien nie – beziehungsweise erst 27 Jahre später. Bis dahin lagen sie im Archiv der Stadt Mölln. Es waren Hunderte von Briefen, die alle geöffnet und zum Teil sogar beantwortet wurden – nie aber wurden den Familien diese Briefe ausgehändigt.
Die Arslans sind mittlerweile im Besitz der Briefe und haben diese an das „DOMiD“, das „Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland“ in Köln zur Archivierung übergeben. Die Briefe können dort digital eingesehen werden. Unter den Briefen befinden sich auch Kinderzeichnungen: „Von Anneke für Ibrahim Arslan“, steht auf einem dieser Bilder, ein lebensfrohes Bild mit Blumen und Schmetterlingen. Auf einem andern Kinderbild steht: „Warum dieser Hass?“ Oder: „Ich würde Sie gerne trösten.“ Alleine diese Kinderbriefe sind so unglaublich berührend. „Ich hoffe, dass sie schnell wieder gesund werden. Und ich hoffe, dass sie bald wieder ein schönes Haus finden“, schreibt ein Mädchen.
Die Dokumentarfilmerin Martina Priessner begleitet mit ihrem Film, der bereits auf der Berlinale zu sehen war, die Familie Arslan dabei, wie sie versucht, mit ihren persönlichen Traumata zurechtzukommen und bei ihrem Kampf für eine neue Erinnerungskultur, bei der die Opfer im Mittelpunkt stehen.
Der damals siebenjährige İbrahim Arslan überlebte die Brandanschläge, verlor aber seine Schwester, seine Cousine und seine Großmutter. An einige Bilder jener Nacht kann er sich noch erinnern, beim Geruch von Feuer oder Rauch kommt das Trauma wieder in ihm hoch. Martina Priessner folgt mit ihrem Film İbrahim bei der Entdeckung dieser Briefe und bei der Begegnung mit einigen der Menschen, die diese Briefe geschrieben haben. Die Überlebenden kamen auf unterschiedliche Weise mit ihren Traumata zurecht: İbrahim kämpft gegen Rassismus und setzt sich für eine neue Erinnerungskultur ein. Für seinen Bruder Namik beginnt erst, die Geschehnisse von damals zu verarbeiten, er war acht Monate alt. Er berichtet, dass seine Mutter ihn rettete, indem sie ihn aus dem Fenster warf. „Die Zeit danach war für mich als kleines Kind dann anstrengend, wenn das Thema aufkam“, erzählt er. „Ich hab das immer in mich hineingeschluckt.“ Von seinen Gefühlen erzählt er erst seit Kurzem.
İbrahim kritisiert auch den Umgang der Stadt Mölln bei den Erinnerungsfeierlichkeiten zum 30. Jahrestags des Anschlags: Sie würden lediglich wie Statisten behandelt, sagt er irgendwann. „Erinnern heißt handeln, Reclaim and Remember“, sagt einer der Redner auf der Veranstaltung.
Und dann geht İbrahim mit seinem kleinen Sohn Sonja besuchen, die damals als 12-Jährige einen Brief an die Familie Arslan geschrieben hat. Dem Brief hatte sie einen kleinen Edelstein hinzugefügt – sie sagt, dass sie diesen heimlich ihrem Bruder geklaut hätte. Das ist so lustig und rührend und beeindruckend gleichzeitig. Zu den Briefen und Karten zählen auch unzählige Kondolenzkarten.
Vielleicht hätten diese Briefe dabei helfen können, dass ihre Mutter sich sicherer gefühlt hätten, sagt Yeliz Burhan, Namiks und İbrahims Schwester, die drei Jahre nach den Anschlägen geboren wurde. Sie trägt den gleichen Vornamen, wie die verstorbene Yeliz, eine Last für sie, sagt sie.
Auf die Frage, wie die Verantwortlichen der Stadt Mölln auf ihre Drehanfragen reagierte, sagt Martina Priessner in einem Interview für Amnesty International: „Sie haben uns die Türen geöffnet, waren kooperativ. Wir haben dort dreimal gedreht. Als wir mit dem Drehen begannen, hatte Ibrahim die Briefe schon abgeholt. Es stellte sich aber dann heraus, dass noch weitere Briefe im Archiv liegen. Es ist nur einem Zufall zu verdanken, dass die Briefe überhaupt gefunden wurden. Eine Bekannte von Ibrahim war bei einer Recherche im Stadtarchiv darauf gestoßen. Sie rief ihn an und fragte: ‚Ibrahim, warum liegen diese wichtigen Dokumente hier im Archiv?‘ (…) Es gab 27 Jahre lang jedes Jahr Gedenkveranstaltungen in der Stadt Mölln. Leider eben ohne Einbeziehung der eigentlich Betroffenen und Überlebenden. Nichtsdestotrotz bin ich sehr froh, dass der Archivar die historische Bedeutung der Briefe erkannt und für die Archivierung gesorgt hat.“
Martina Priessner arbeitet als freie Dokumentarfilmerin und Autorin sowohl in Berlin als auch in Istanbul und beschäftigt sich insbesondere zu Themen der deutsch-türkischen Migration. Sie erhielt Stipendien von Nipkow, DEFA, Mercator und der Kulturakademie Tarabya. Ihr Dokumentarfilm DIE WÄCHTERIN über eine syrisch-orthodoxe Nonne in der Türkei aus dem Jahr 2020 wurde mit dem Dokumentarfilmpreis des Goethe-Instituts ausgezeichnet. 2021 wurde sie für den Grimme-Preis nominiert.
DIE MÖLLNER BRIEFE ist ein zutiefst berührender Dokumentarfilm, der das Versäumnis nachholt, den Betroffenen jenes Anschlags vor über dreißig Jahren, endlich zuzuhören, sie endlich wichtig zu nehmen, ihnen eine Stimme zu geben. Es ist beeindruckend, zu sehen, wie İbrahim Arslan sich engagiert, dafür kämpft, dass dieser Anschlag nicht vergessen wird – und wie er dafür kämpft, dass es eine neue Erinnerungskultur gibt, die die rassistische Anschläge aus der Sicht der Opfer sieht.
Filmografie (Auswahl)
DIE WÄCHTERIN, DE 2020, 87 Min.
650 WÖRTER, DE 2015 45 Min.
EVERYDAY I’M CAPULING, DE/TR 2013, 60 Min.
WIR SITZEN IM SÜDEN, DE/TR 2010, 88 Min.
Englischer/Originaltitel: THE MOELLN LETTERS. Autor*in: Martina Priessner. Kamera: Ayşe Alacakaptan, Julia Geiß, Ute Freund, Anne Misselwitz. Ton: Bilge Bingül, Ludwig Fiedler. Schnitt: Maja Tennstedt. Musik: Derya Yıldırım. Produktion: inselfilm produktion. Produzent*in: Gregor Streiber, Friedemann Hottenbacher. Vertrieb: NEW DOCS. Verleih: Real Fiction.
Ab 8. Mai 2025 ist der Dokumentarfilm beim DOK.fest in München zu sehen.