Die Gemeinde Paimpont, irgendwo in der Bretagne, laut Wikipedia 1778 Einwohner, die Gemeinde sei „hauptsächlich von Wald bedeckt“. Sehenswürdigkeiten: Die Abtei, die Kirche – und angeblich Erinnerungsstätten aus der Sagenwelt der Artus-Legende: Merlins Grab, der Jungbrunnen, die Quelle von Barenton. Berühmte Persönlichkeiten: lediglich ein Ordensgeistlicher aus dem 19. Jahrhundert. Und da fällt mir gleich auch siedend heiß ein, dass ich da schon war, mit meiner Familie, das Kind konnte damals noch kaum laufen, wir waren in der Normandie und in der Bretagne unterwegs, Mont St. Michel, der Atlantik, die Steine von Carnac und so. In Paimpont machten wir Kaffeepause auf dem Weg Richtung Rennes und das Kind durfte sich die Füße vertreten und Eis essen. Ein wunderschöner Ort, natürlich recht touristisch, aber noch erträglich.

In „Die Barbaren“ scheint die Welt in Paimpon noch weitgehend in Ordnung zu sein. Zumindest zunächst. Und wie in der Sage, bzw. wie im Märchen fängt der Film auch an: „Il était une fois à Paimpont…“ Es war einmal in Paimpont. Das Bild von Macron hängt an der Wand, da ist er noch ein paar Jahre jünger, mit glatter Haut und satter Haarfarbe. Sébastien Lejeune, der Bürgermeister von Paimpon, hält eine Ansprache an die Bevölkerung: Zu allererst macht er noch Eigenwerbung fürs eigene Sägewerk, und seine Baufirma. Dann Lobensworte für das beschauliche Paimpon. Und: Man sei engagiert. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine sei man sofort aktiv geworden und nun sei es so weit: Die ersten ukrainischen Flüchtlinge würden in Paimpon willkommen geheißen. Einstimmig hatte der Gemeinderat zugestimmt.

Und nun bereitet man sich eben auf die Ukrainer vor. Joelle Lesourd (Julie Delpy) ist die Lehrerin in der kleinen Schule, sie wird natürlich mit den ukrainischen Kindern zu tun bekommen. Ukrainische Fahnen werden gehisst, Bilder von Zelenskij aufgehängt, man lernt Borschtsch kochen etc. Große Hilfsbereitschaft allüberall im Dorf. Doch dann passiert Unvorhergesehenes: „Ukrainer sind sehr gefragt auf dem Flüchtlingsmarkt“, stellt der Bürgermeister fest. Und da waren die Ukrainer eben schon über halb Europa verteilt, nicht mehr genügend übrig für ein westfranzösisches Dorf. Aber es gibt ja noch Geflüchtete Syrer – und da nimmt man eben die. Aber Moment: Kopftücher im Dorf? Findet man doch nicht so gut. Und für die Landwirtschaft seien die Ukrainer doch besser geeignet. Und überhaupt: Für Syrer hätte man doch im Gemeinderat gar nicht abgestimmt? Und wie unterhält man sich überhaupt mit Arabern? Und wenn es Terroristen sind? Fragen sich die Dorfjugendlichen. Aber nun kann man auch keinen Rückzieher mehr machen, und es wäre ja dramatisch, wenn das Fernsehen einen falschen Eindruck vom Dorf vermitteln würde. Und so wird die syrische Familie Fayad in Empfang genommen und außer den misslungenen Witzen des Bürgermeisters geht auch beinahe alles gut. Wäre da nicht … der rassistische Kommentar, der irgendwo an die Wand gesprüht wurde: Raus mit den Barbaren.
Dann kommt es zu den ersten Konflikten, der „Culture Clash“ droht. Einer der Syrer bedient sich an den Nüssen im Geschäft, weil er denkt die wären umsonst. Und: Warum tragen die Syrerinnen eigentlich keine Kopftücher? Zu aller Überraschung sprechen in der bildungsnahen Familie Fayad schon einige französisch – und gerne würde man auch arbeiten gehen. Und nun gehen die ersten Beschwerden darüber los, dass man es nicht gut finde, dass die Flüchtlingsfamilie umsonst wohnen darf. Aber immerhin lernt die Bevölkerung des Dorfes einiges über Syrien, etwa dass in Syrien Unfreiheit herrsche und das Land eine Diktatur sei. „Ah“, meint der querdenkende Impfgegner-Opa, „wie Frankreich!“ Bisweilen ist das urkomisch, wenn die dörfliche Vielfalt der westfranzösischen Provinz auf die syrische Lebenswirklichkeit stößt. Genau diese syrische Lebenswirklichkeit verleiht dann aber dem provinziellen Dorf eigentlich nur noch zusätzliche Vielfalt. Dann aber taucht der identitäre Block auf und droht die Situation eskalieren zu lassen. Aber der eigentliche Konflikt beginnt zwischen den Dorfbewohnern zu schwelen.
„Die Barbaren“ ist bereits der siebte Film von Julie Delpy, bei dem sie Regie führt. „Es ist eindeutig, dass das aktuelle, globale Klima alles andere als entspannt ist“, sagt Delpy. „Mein Sohn ist 15 Jahre alt und lernt derzeit in der Schule über Diktaturen. Er sagte zu mir: ‚Mama, das ist ein Kreislauf, der alle 80
Jahre zurückkehrt, das ist katastrophal.‘ Heute verschärfen sich die Dinge zusätzlich: vom militärischen Machtstreben über die Überbevölkerung bis hin zum Klimawandel – all das verschlimmert die Situation. Die Menschheit bewegt sich in eine gefährliche Richtung. Aber, wie man sagt: Nach dem Sturm kommt der Sonnenschein. Es könnte nur leider sehr lange dauern, und deshalb muss man wachsam bleiben. Dennoch ist DIE BARBAREN – WILLKOMMEN IN DER BRETAGNE kein Film mit einer Botschaft; er versucht lediglich, ehrlich mit der aktuellen Situation umzugehen, die weder verharmlost noch verteufelt werden sollte.“
Naja, genau dieser Versuch, die aktuelle Situation weder zu verharmlosen noch zu verteufeln, sorgt aber dafür, dass es dem Film an Tiefe, an Position, an Stellungnahme fehlt. Das ist mir manchmal zu viel Kompromiss, wo vielleicht Kompromiss nicht die richtige Haltung ist. Und so bleibt es denn über weite Strecken eine etwas schlichte Unterhaltung. Viel mutiger wäre es gewesen, eine Flüchtlingsfamilie zu zeigen, die problematisch ist – und dann dennoch zu versuchen, sich argumentativ auf ihre Seite zu schlagen. Viel provokanter wäre es gewesen, Gegner der Migration zu zeigen, die einen Punkt machen – um dann wiederum zu argumentieren, dass wir Migration brauchen, dass wir Flüchtlingen eine Möglichkeit geben müssen, sicher bei uns unterzukommen. Das wäre eine Auseinandersetzung mit der Thematik gewesen, die alle Seiten zum Nachdenken hätte bringen können. Es sind leider keine echten Konflikte, die wir zu sehen bekommen, sondern am Drehbuch-Reißbrett entworfene.
Julie Delpys Film aber wird nur dafür sorgen, dass alle so weiter denken, wie bisher: Die Gegner der Migration werden sagen, dass die ja Beispiele aus einer fiktiven, heilen Welt seien. Und die Befürworter von Migration werden dem Film gegenüber zustimmend nicken, nichts weiter. Das ist mir, trotz aller gelungenen Unterhaltung, zu seicht.

„Dieser Film will die Menschen in erster Linie unterhalten, zugleich aber auch einen Subtext vermitteln – ohne dabei naiv zu sein“, sagt Julie Delpy. „Alle Zwischenszenen des Films, die die fünf Akte einleiten, stehen in Verbindung mit Themen wie den Religions- und Kolonialkriegen oder der angeblichen Überlegenheit der Weißen. Das spiegelt einmal mehr meine Prägung wider: Die Vorstellung, dass eine Rasse, eine Religion oder ein Mensch weniger wert sein könnte als andere, ist für mich absolut inakzeptabel. Das habe ich auf bildhafte Weise umgesetzt: Jeder Akt wird von klassischer Musik untermalt, wobei ich bewusst Beethoven und Mozart ausgewählt habe.“ Natürlich hat die Regisseurin damit recht, aber sie liefert damit halt auch keinen nennenswerten Beitrag dazu, dass die Spaltung in der Gesellschaft kleiner werden könnte. Das ist nur affirmativ, in jede Richtung.
Mir fällt bei dieser Gelegenheit auch jener Film ein, mit dem ich Julie Delpy als Schauspielerin so richtig kennen- und schätzen gelernt habe: Richard Linklaters „Before Sunrise“. Es ist in der Tat krasse 30 Jahre her, dass ich diesen Film das letzte Mal gesehen habe, aber ich mag mich erinnern, dass mir dieser Film damals vermittelt hat, dass mir da eine Geschichte erzählt wird, die zeigt, wie sich Menschen wirklich kennen lernen, wie sie sich mit einander auseinandersetzen, wie sie wirklich miteinander kommunizieren. Keine Ahnung, wie ich das heute sehen würde, es ist Zeit, den Film mal wieder zu schauen. Aber genau diese offene Kommunikation ist es, was mir an den „Barbaren“ fehlt.

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DIE BARBAREN – WILLKOMMEN IN DER BRETAGNE Originaltitel: LES BARBARES Regie: Julie Delpy |