„Mein Papa macht Zebrastreifen und 30er-Zonen auch“, ist eine der süßesten Berufsbeschreibungen eines Kindes über das Berufsleben seines Papas. Die Mamas sind im Schnitt Hausfrauen oder sind in sozialen Berufen, die Papas sind Bauarbeiter, Dienstleister oder arbeiten in der Gastronomie. Ruth Beckermann, eine der bekanntesten österreichischen Dokumentarregisseurinnen begleitet den Alltag der Kinder und der Lehrkräfte in einer Grundschule über Jahre hinweg in Wien – dort heißt es Volksschule. Favoriten ist der Name des zehnten Wiener Gemeindebezirks – daher der Titel (der aber natürlich auch zweideutig ist), dem bevölkerungsreichsten Bezirk Wiens, ein ehemaliger Arbeiterbezirk. Für etwa 40% der dort lebenden Menschen ist Deutsch nicht die Muttersprache – in etwa vergleichbar mit Neukölln oder dem Wedding in Berlin. Irgendwann in den letzten Jahrzehnten entstand der Begriff „Brennpunktschule“, wahrscheinlich nach dem damaligen Brandbrief der Schulleiterin der Rütlischule in Berlin-Neukölln. Beckermann lehnt den Begriff ab, zurecht, weil da brennt nichts, sagt sie in einem Interview. Die Dreharbeiten begannen mitten in der Pandemie, jenem Zeitraum, der mit dem Homeschooling die Ungerechtigkeiten unserer Schulsysteme verschärften, was damals klar war – und heute umso mehr zu Tage tritt. Während Privatjets Bundesligaprofis durch die Weltgeschichte flogen, durften Kinder noch nicht einmal miteinander Fußball spielen. Aber das nur nebenbei, das hat mit dem Film nichts zu tun.
Mit allerlei Problemen hat der Schulleiter, haben die Lehrerinnen und Lehrer der Schule zu kämpfen – auch nach Ende der Pandemie. Die Schulsozialarbeiterin wird in einer weiterführenden Schule gebraucht, da sei sie, meinen die Behörden, wichtiger. Die Schulpsychologin ist schwanger, ob es Ersatz gibt, weiß keiner. Die Kinder sind so vielfältig wie in jeder anderen Schule; die eine spielt sich als Klassenpolizei auf, der andere mag sich nicht so gerne an Regeln halten. Wieder andere quatschen einfach gerne, dem einen fällt das Rechnen schwer, dem anderen die Tücken der Rechtschreibung. Überhaupt Sprache, für die große Mehrheit ist Deutsch nicht die Muttersprache, das macht das Schulleben schwierig, verschiedene kulturelle Hintergründe auch ein bisschen (zum Beispiel wenn’s um die Kleiderordnung im Schwimmbad geht, oder um die Rolle der Frau in der Familie). Aber im Großen und Ganzen gehen sowohl Kinder als auch Pädagog*innen völlig selbstverständlich mit ihrer kulturellen Vielfalt um. Und die Kinder haben Träume: Wissenschaftlerinnen wollen sie einmal werden, Lehrerin, Astronaut, Polizistin. Schnell gleitet das Gespräch aber ab in Richtung der Ängste, die die Kinder bewegen: vor Kriminalität. Vor einer Entführung, weil man sich zu sehr geschminkt hat. Zumindest hat die Mama das erzählt, dass sowas passieren würde. Die Lehrerin versucht das Gespräch wieder in die richtige Bahn zu lenken. „Entscheidet deine Mama selber, was sie anzieht, oder entscheidet jemand anders für sie?“, fragt die Lehrerin einen der Jungen. Der Papa entscheidet für sie, sagt er. Am interessantesten wird der Film dann, wenn die Kinder sich gegenseitig interviewen, wo sie mal leben möchten, was sie werden möchten etc.
Es gibt eine faszinierende Szene, in der die Lehrerin, Ilkay Idiskut, in deren Klasse der Film gedreht wurde, mit einer Engelsgeduld versucht herauszubekommen, was bei einer Auseinandersetzung zwischen den Kindern passiert ist, wer schuld ist, wer mitschuld ist, wer sich bei wem entschuldigen sollte etc. Beeindruckend, wie sie mit diesem Streit umgeht und die Schülerinnen und Schüler gleichzeitig sanft und energisch dazu bringt, Verantwortung für das zu übernehmen, was geschehen ist. Und die Klasse ist dabei und lernt und profitiert davon. Irgendwann dringt dann das Weltgeschehen ins Klassenzimmer ein, es geht um Auseinandersetzungen in Syrien und in Ukraine – weil es Kinder gibt, die dort herkommen. Und dann wird’s ganz besonders speziell und scheinbar herausfordernd für die Kinder: Erst kommt der Sexualkundeunterricht und dann auch noch der Schwimmunterricht. Und: das erste Referat. Und was einen umhaut ist nicht nur die Vortragskompetenz der Referentin, sondern erst recht die Feedbackkompetenz der Mitschüler: fundiert, fair, produktiv, überlegt, motivierend. Unglaublich. Man lese sich im direkten Vergleich dazu durch Internetforen und Ähnliches. Wie inkompetent, toxisch, giftig dort Erwachsene miteinander umgehen. Etwa wenn es um Migration oder Politik etc. geht.
Beckermann hört und schaut den Kindern zu, sie interessiert sich, für das, was sie sind, was sie ausmacht, sie schaut ihnen zu, wie sie eine Moschee besuchen und beten und der Imam ihnen etwas über den Islam erzählt. Und wie sie „ihren“ Stephansdom besuchen. Wie viele Katholiken in der Klasse sind, möchte der sichtlich ob seiner Kirche stolze Oberpriester wissen: keine.
Beckermann kommentiert nicht, sie hält sich raus, mischt sich nicht ein, wertet nicht – und das macht die Stärke dieses Dokumentarfilms aus. Später geht es darum, ob die Kinder einmal heiraten wollen – und wie der Wunschpartner bzw. die Wunschpartnerin aussehen soll, ob die Kinder viel Geld verdienen wollen. Eine schier unbändige Neugierde strahlen sie aus. Es ist so wundervoll zuzusehen, wie die Lehrerin mit den Kindern umgeht – zumindest allermeistens (vielleicht könnte man das Mädchen, das 172 nicht abrunden kann auch mal auf Dyskalkulie überprüfen? Könnte ihm vielleicht helfen).
Und es gibt noch etwas, was dieser Film zeigt: Man kann live dabei zusehen, wie die so motivierten Kinder vom Notensystem – diese an der Realität vorbeigehende Methode aus Zeiten, in den Schüler und Schülerinnen auch noch geschlagen wurden – terrorisiert werden.
„Favoriten“ ist einer von vielen Schul-Dokumentar- und Spielfilmen in den letzten Jahren, die in den Kinos liefen. Der berühmteste war „Herr Bachmann und seine Klasse“ aus dem Jahr 2021. Die Lehrerin aus „Favoriten“ ist ein ganz anderer Typus Lehrer, als es Herr Bachmann ist. Bachmann ist ein charismatisches Padägogikausnahmetalent, wie es sie vielleicht nur hin und wieder und möglicherweise gar nicht an jeder Schule gibt. Aber „Favoriten“ zeigt etwas anderes: dass es nicht unbedingt Ausnahmetalenten bedarf, sondern dass es schon wunderbar ist, wenn Lehrkräfte sich auf die Kinder einlassen, ihnen mit Empathie, manchmal auch mit Strenge, begegnen und sich auf sie einlassen. „Unsere Lehrerin ist ein Beispiel, wie dieser Alltag ausschauen könnte“, erklärt Ruth Beckermann. Lehrersein ist Charaktersache – und diese wunderbar Ilkay Idiskut ist ein toller Charakter, ein wundervoller Mensch – und das spüren diese Kinder in jeder Minute – und sie sind ihr so dankbar dafür. „Sie ist quasi die nächste Generation, die Realität in meinem Film ist eine heutige“, sagt die Regisseurin. „Mich interessiert vor allem die Zukunft. Diese Kinder sind die Zukunft unserer Gesellschaft. Ilkays Klasse steht für viele Volksschulklassen in Wien oder in Berlin. All das, was sie gemeinsam in der Klasse besprechen, gilt auch für die Probleme in unserer Gesellschaft. Das Tolle an der Lehrerin ist, dass sie sich auf diese Diskussionen einlässt. Sie blockt nichts ab, sondern lässt sich auf Debatten ein. Sie hat auch keine Angst, die Kinder zu berühren. Sie ist wirklich ungewöhnlich.“ In der Tat: Ich bin fasziniert, wie still, wie ruhig es in der Klasse war, ich kenne das aus eigenem Ansehen in vergleichbaren Schulen anders. Konflikte, wie sie in Ilkay Idiskuts Klasse entstehen, gibt es überall, in allen Schulen – und es ist faszinierend, anzusehen, wie sie diese Konflikte ernst nimmt und wie sie sie in der Klasse angeht und zu lösen versucht.
„Ich denke, Kindergarten und Volksschule bilden eine unglaublich wichtige Grundlage“, sagt Ruth Beckermann. „Ich habe immer die Auffassung vertreten, dass alles, was man bis zum sechsten Lebensjahr in ein Kind “hineinstopfen” kann, funktioniert, weil die Kinder schon ab drei Jahren unheimlich aufnahmebereit sind. In manchen Ländern gehen die Kinder auch schon ab drei, vier Jahren in die Vorschule. Das gibt es bei uns nicht. Die Volksschule, wie sie in Österreich noch immer heißt, ist sehr, sehr wichtig und wird hierzulande sehr vernachlässigt. Kinder sind sehr wach. Es tut einem das Herz weh, wenn man zuschauen muss, welche Chancen da vergeben werden. Kinder könnten anders gefördert werden wie z.B. in England, wo die Kinder mit dreieinhalb, vier in die Vorschule gehen und alle lesen können, wenn sie mit sechs in die Schule eintreten und die Sprache gut können. Die deutsche Sprache müsste ein so selbstverständliches Werkzeug sein wie unsere Hände.“
Beckermann gelingt mit dem Film ein beeindruckendes, berührendes Langzeitprojekt und gerne will man wissen, was aus den Träumen dieser Grundschüler einmal werden wird. Genau eines zeigt nämlich dieser Film: Auch Kinder aus schwierigen Verhältnissen, auch Mädchen aus Familien, in denen der weibliche Nachwuchs nicht unbedingt für ein erfülltes Berufsleben vorgesehen ist – haben trotz allem Träume – von Erfolg im Leben, von einem spannenden Beruf – auch von einem glücklichen Familienleben. Beckermann nimmt uns eine Zeitlang mit auf die Reise dieser jungen Menschen mit schwierigen Startbedingungen – und am Schluss, ich verrate nichts, stehen uns die Tränen der Rührung in den Augen.
RUTH BECKERMANN
FILMOGRAFIE
ARENA BESETZT, 1977, 78 min, sw; Uraufführung Action-Kino Wien
AUF AMOL A STREIK, 1978, 24 min, Farbe; Festivals: Leipzig, Oberhausen
DER HAMMER STEHT AUF DER WIESE DA DRAUSSEN, 1981, 40 min, Farbe
WIEN RETOUR, 1984, 95 min, Farbe und sw; Festivals: Leipzig, Jerusalem, Cinéma du réel Paris, San Francisco, Florenz, etc.
DER IGEL, 1986, 34 min, Farbe; realisiert gemeinsam mit Studierenden der Universität Salzburg
DIE PAPIERENE BRÜCKE, 1987, 95 min, Farbe und sw; Festivals: Internationale Filmfestspiele Berlin, Hamburg, Troia (Portugal), Edinburgh, Montecatini, New York, Jerusalem, etc.
NACH JERUSALEM, 1991, 87 min; Festivals: Internationale Filmfestspiele Berlin, Troja, Montreal, Rom, Florenz, etc.
JENSEITS DES KRIEGES, 1996, 117 min; Festivals: Internationale Filmfestspiele Berlin, Cinéma du réel Paris, Nyon, Pesaro, Jerusalem, Duisburg etc.
EIN FLÜCHTIGER ZUG NACH DEM ORIENT, 1999, 82min, Festivals: Internationale Filmfestspiele Berlin, München, Karlovy Vivary, Jerusalem, Vancouver, Feminale Köln, Kassel, Lussas etc.
HOMEMAD(E), 2001, 85 min, DV/35mm, Farbe, Festivals: Internationale Filmfestspiele Berlin, Cinéma du Réel, Diagonale Graz
ZORROS BAR MIZWA, 2006, 90min, DV/35mm, Farbe, Festivals: Cinéma du Réel Paris, Viennale, Bafici Buenos Aires, Chicago etc.
MOZART ENIGMA, 2006, 1 min, DV/35mm, Farbe, Internationale Festivals im Rahmen der Sixpack- Tour zum Mozartjahr
AMERICAN PASSAGES, 2011, 120 min, DV/35mm, Farbe, Festivals: Cinéma du réel, Paris, Viennale; Bafici Buenos Aires, Duisburg, Montreal, East Silver, Diagonale etc.
JACKSON/MARKER 4AM, 2012, 3.35min, HDcam, Farbe, Festivals: Diagonale, Bafici, MARFA etc..
THOSE WHO GO THOSE WHO STAY, 75 min, HDV/DCP, Farbe, Festials: Viennale, Diagonale, Vision du réel Nyon, FID Marseille etc.
THE MISSING IMAGE, 2015, Mehrkanal Videoinstallation auf dem Albertinaplatz Wien
DIE GETRAUMTEN, 2016, 89 min, HD/DCP, Farbe, Festivals: Internationale Filmfestspiele Berlin, Diagonale Graz, Cinéma du Réel Paris, FID Marseille, TIFF Toronto etc.
WALDHEIMS WALZER, 2018, 93 min, sw und Farbe, Festivals: Internationale Filmfestspiele Berlin (Gewinner GLASHÜTTE ORIGINAL-Dokumentarfilmpreis), Diagonale Graz, Thessaloniki Doc FF, Cinéma du Réel Paris, IDFA Amsterdam, BAFICI Buenos Aires, San Francisco Jewish Film Festival, Documenta Madrid etc.
JOYFUL JOYCE, 2019, Mehrkanal Videoinstallation bei den Salzburger Festspielen
MUTZENBACHER, 2022, 100 min, Farbe, Festivals: Internationale Filmfestspiele Berlin (Bester Film in der Sektion Encounters).
FESTIVALS
Berlinale (15.–25.2.2024), Berlin – Weltpremiere 16.2. – Friedensfilmpreis
CPH:DOX Documentary Filmfestival (13.–24.3.2024), Kopenhagen
HKIFF Hong Kong International Film Festival (28.3.–8.4.2024), Hong Kong
DIAGONALE – FESTIVAL DES ÖSTERREICHISCHEN FILMS (4.–9.4.2024), Graz
AMBULANTE GIRA DE DOCUMENTALES (10.4.–26.5.2024), Mexico City
Visions Du Réel (12.–21.4.2024), Nyon
LICHTER FILMFEST FRANKFURT INTERNATIONAL (16.–24.4.2024), Frankfurt
BAFICI Buenos Aires International Film Festival (17.–28.4.2024), Buenos Aires
Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern (30.4.–5.5.2024), Schwerin
JEONJU INTERNATIONAL FILM FESTIVAL (1.–10.5.2024), Jeonju
Flying Broom International Women‚s Film Festival (9.5.–16.5.2024), Ankara
MILLENNIUM DOCS AGAINST GRAVITY FILM FESTIVAL (10.–19.5.2024), Warschau
12th DIFF Diaspora Film Festival (17.–21.5. 2024), Incheon, Korea
Beldocs Film Festival (22.–29.5.2024), Belgrad
Docaviv International Documentary Film Festival (23.5.–1.6.2024), Tel Aviv
El Festival De Cine AL ESTE (AL ESTE DE LIMA) (29.5.–9.6.24), Lima
Subversive Film Festival (30.5.–8.6.), Zagreb
Favoriten
ein Film von
Ruth Beckermann
Regie: Ruth Beckermann
Buch: Ruth Beckermann & Elisabeth Menasse Regieassistenz: Elisabeth Menasse
Bild: Johannes Hammel Ton: Andreas Hamza Montage: Dieter Pichler Schnittassistenz: Eva Rammesmayer
Produktion: Ruth Beckermann Filmproduktion Produktionsleitung: Rebecca Hirneise Produktionassistenz: Jana Waldhör
Fachliche Beratung: Heidi Schrodt
Mit Unterstützung von: ÖFI Österreichisches Filminstitut, ÖFI+, FISA – Film Industry Support Austria Filmfonds Wien ORF Film/Fernseh-Abkommen
Mit: Nerjiss Aldebi
Liemar Aljouma
Egemen Ak, Majeda Alshammaa
Enes Kerim Bölüktaş
Melisa Bulduk
Furkan Çongar
Dani Crnkić
Eda Dzhemal
Beid Emini
Arian Grošić
Elif Gürdal
Rebeca Harambaşa
Ibrahim Ibrahimovič
Alper Ismetov
Davut Kaplan Manessa Lakhal und
Ilkay Idiskut