
Regie: Nicola von Leffern, Jakob Carl Sauer
| Österreich 2024 | 98 Min. | Arab. , Engl. , Franz., mit dt. UT | Keine Altersfreigabe-Prüfung (FSK) erfolgt
4. August 2020. In Beirut explodieren 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, 207 Menschen werden getötet, 6500 werden verletzt, unzählige Häuser werden beschädigt und zerstört. Die Bilder sind uns seit der Berichterstattung in der Erinnerung eingebrannt wie wenige Katastrophen, noch viel mehr die Kurzvideos aus den sozialen Medien, die die gewaltige Explosion aus unzähligen Perspektiven wiedergeben. Der Film verzichtet nicht darauf, diese Bilder erneut zu zeigen. Heute befindet sich Beirut in der Phase des Wiederaufbaus – und in einer Phase des Zurechtkommens mit einem kollektiven Trauma. Stromausfälle bestimmen den Alltag, die Infrastruktur ist weiterhin labil – die Wirtschaftskrise, Inflation und Armut prägt das Land. Wie finden die Menschen nach dieser Tragödie zurück in den Alltag, zurück ins Leben?
Es sind Anrufe bei der Telefonseelsorge, mit denen der Film beginnt, von Menschen in tiefer Sorge, in Krisen, in Ängsten, von denen sie seit der verheerenden Explosion betroffen sind. Die Menschen sind voller Panik, weitgehend alleine gelassen. Eine junge Frau, Sara erzählt am Telefon, wie sie die Katastrophe erlebt hat, wie sie damit zurecht gekommen ist. Das Gefühl der Sicherheit hat sie seither verloren. „There is no choice except to keep going“, sagt Sara plötzlich auf Englisch, nachdem sie zu vor durchgehend Arabisch gesprochen hat. Hilflosigkeit, Suizidgedanken, Hoffnungslosigkeit.
Nicola von Leffern (geboren 1986 in Hamburg) und Jakob Carl Sauer (geboren 1989 in Klagenfurt), zwei Filmemacher*innen, die sich während ihres Studiums an der Filmakademie in Wien kennengelernt haben, begleiteten für ihr Langfilmdebüt drei Jahre lang Menschen aus Beirut: das syrische Flüchtlingsmädchen Aya, den aktivistischen Maler Selim, die Familie Aladdin, die um ein Familienmitglied trauert, sowie die junge Tänzerin Andrea.
Die Familie Aladdin trauert um ihren Sohn Mohammad, dessen Bild an der Wand hängt. Es ist das erste Jahr nach der Katastrophe. Überall liegen Trümmer von Häusern, die Menschen versuchen auf eigene Faust ihre in Mitleidenschaft gezogenen Wohnungen zu renovieren. Mohammads Tod, die Besuche auf dem Friedhof, bestimmen den Jahresablauf, den Alltag. In zehn Minuten wollte er, so sagte er damals, zu Hause sein. Diese 10 Minuten, sagt seine Schwester, dauerten bis heute an. Er war in keinem Krankenhaus, niemand wusste etwas, niemand konnte der Familie helfen.
Aya, das syrische Flüchtlingsmädchen, geht zur Schule, lernt mühsam schreiben und lesen, sie lebt mit ihrer Familie in einem fensterlosen Verschlag in einer Tiefgarage. Das Wohnzimmer ist ein in der Tiefgarage ausgebreiteter Teppich, die Kinder haben Alpträume, Angstzustände. 100.000 Kinder jeden Alters, meldet das Fernsehen, leiden unter den Auswirkungen der Katastrophe; Ängste, Traumata, Alpträume, Bettnässen. Dazwischen Wutanfälle, Heulausbrüche. Aber auch: die Ruinen sind Spielplätze für die Kinder geworden.
Andrea die Tänzerin braucht Physiotherapie, seit der Explosion leidet sie an Schmerzen. Für sie sind die Therapien, die sie angehen möchte, Teil des Versuchs, wieder über ihren Körper bestimmen zu können. Am Strand trainiert sie und versucht ihr Leid zu vergessen.
Selim, der Maler, richtet sein Atelier wieder her, um arbeiten zu können. Er verarbeitet sein Trauma in der Kunst. Er hat eine Ausstellung gemacht, mit dem Titel „Explosion des Bewusstseins“. Jeden Tag beschäftigt ihn die Katastrophe, mehr als ihn damals der Krieg beschäftigt hat. „Wir haben Beirut in ein Massengrab der Wahrheit verwandelt“, heißt es auf einem seiner Kunstwerke. Die Kritik am Umgang der Regierung mit der Wahrheit ist in seinen Arbeiten allgegenwärtig.
Und dann kommt der Jahrestag der Explosion. Die Wut der Menschen ist groß. Niemand wurde zur Verantwortung gezogen, obwohl die Regierung von der Lagerung der Sprengstoffe am Hafen wusste. Es ist der Tag, die Wut auszudrücken. Menschenmassen versammeln sich zur Kundgebung. Wie wird das zweite Jahr werden?
„Als wir vor über zwölf Jahren durch die Arbeit einer NGO in die Region kamen, lag uns der Libanon von Anfang an besonders am Herzen“, schreiben die Filmemacher*innen. „2015 produzierten wir den Kurzdokumentarfilm MAFI KAHRABA, der sich mit der Stromkrise in Beirut und den vielen Flüchtlingslagern befasst, die unter diesem Problem leiden. In den letzten Jahren haben wir die Revolution im Libanon mit großer Hoffnung und die Explosion in Beirut mit großem Schrecken verfolgt. TO CLOSE YOUR EYES AND SEE FIRE begann als eine Erkundung der Resilienz inmitten einer Spirale von Katastrophen. Dieser Film macht die Stimmen derer hörbar, die nie aufhören, sich für Gerechtigkeit, für eine Zukunft und für einen sicheren Ort zum Leben einzusetzen. Die Tatsache, dass wir mit unseren Protagonist:innen unter einem Dach wohnten, war entscheidend, um ihre Geschichten in einem sanften Rhythmus zu erzählen. Als Fliege an der Wand in ihrer privaten Umgebung zu leben, das Persönliche als politisch darzustellen und während der Dreharbeiten ein Cinéma vérité zu schaffen.“
Nicola von Leffern und Jakob Carl Sauer gelingt eine bedrückende Dokumentation über eine Katastrophe, verbunden mit den persönlichen Schicksalen, die damit zusammenhängen. Die Bilder sind unvergesslich, in jeder Szene spürt man die Nähe, die die Regisseur*innen zu den Hauptfiguren dieses Dokumentarfilms entwickelt haben. Es ist bemerkenswert, den Traumata der Betroffenen zu folgen – und ihren Strategien, damit zurecht zu kommen. Und vielleicht gibt es im zweiten Jahr Hinweise darauf, dass sich die Blicke auf die Katastrophe zu ändern beginnen. Beeindruckend.
Nicola von Leffern, Filmografie
2015 MAFI KAHRABA (KF, Dok)
2016 PUNKS IN MYANMAR (KF, Dok)
2024 TO CLOSE YOUR EYES AND SEE FIRE (Dok)
Jakob Carl Sauer, Filmografie
2019 BLOOM (KF, Dok)
2020 TRACES IN THE FORREST (MF, Dok)
2024 TO CLOSE YOUR EYES AND SEE FIRE (Dok)
Regie Nicola von Leffern, Jakob Carl Sauer
Kamera Jakob Carl Sauer
Montage Matthias Writze
Musik HVOB
Ton Nicola von Leffern
Produzenten Peter Drössler, Arash T. Riahi, Sabine Gruber, Nicola von Leffern, Jakob Carl Sauer
Produktion Golden Girls Filmproduktion
Koproduktion VON LEFFERN / SAUER PRODUCTION
Förderung ORF Film/Fernseh-Abkommen, Bundesminsiterium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (BMKÖS), Stadt Wien – Kultur (MA 7), drehbuchFORUM Wien / scriptLAB
Weltvertrieb Taskovski Films
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