THE END von Joshua Oppenheimer ab 27. März 2025 im Kino

The End ©Felix Dickinson_NEON. Tilda Swinton

„The houses are all gone under the sea. The dancers are all gone under the hill.“ Mit diesem etwas kryptischen T.S. Eliot-Zitat beginnt der Film. Und dass dann als Filmtitel jene Worte erscheinen, die sonst am Ende eines Films stehen, „The End“, hat eigentlich schon etwas Absurd-Komisches. Wo sind wir? Ein unterirdisches Bergwerk, ein stillgelegter Salzstock. Schnitt. Romantische Gemälde, Berglandschaften, Natur, dramatische Idyllen. Schnitt. Ein junger Mann bastelt sorgfältig an historischen Landschaftsmodellen, ein Sessellift, das Hollywoodzeichen, Berge, der Bürgerkrieg, der Ölboom, die Mondlandung, ein liebevoll gestaltetes Diorama, eine Spielzeugeisenbahn, Ergebnis des Homeschooling, wie er irgendwann erklärt. Und während wir noch gedanklich umherirren, in welches Genre sich das wohl entwickeln mag, wird schon einmal der Ton gesetzt für ein Genre, dem wir jetzt begegnen werden: ein Musical. Der Vater stößt hinzu, die Mutter, die – naja – Angestellten, die sich um den Haushalt in dieser fensterlosen, villenartigen Luxusunterkunft kümmern. „Seht uns an, sind wir nicht ein toller Anblick? Die Kraft unserer Familie währt ewig. Gemeinsam sieht unsere Zukunft blendend aus“, lautet der hymnische, optimistische, feierliche Text des Gesangs. Mit leichten Einschränkungen: „Die Schatten wurden lang, wurden zu ewiger Nacht. Wir kämpfen uns durch die Dunkelheit.“ Aber die Zuversicht siegt: „Ein gutes Leben und kein Ende in Sicht. Unsere Hoffnung auf morgen soll uns führen. Gemeinsam sieht unsere Zukunft blendend aus.“

Aber die dunklen Schatten spielen im Alltag der Familie und ihrer Angestellten durchaus eine Rolle: Es gibt groteske Notfallübungen: Was tun, wenn’s brennt und der Sauerstoff auszugehen droht? Sie machen Schießübungen, gegen irgendwelche Feinde, von denen keiner weiß, ob sie überhaupt existieren. Aber früher gab es sie wohl, und da haben die Waffen geholfen, erklärt der Vater.

Der Sohn schreibt derweil eine Heldengeschichte, die von seinem Vater handelt, irgendwas mit Terrorismus, gegen den er sich einst gewehrt hatte, aber die einzigen Quellen, auf die er sich berufen kann, sind irgendwelche Zeitungsartikel von früher, die es mit der Wahrheit wohl nicht so genau genommen haben, und so entstellt die Geschichte das Selbstbild, das der Vater von sich hat. Fake News. Alles war viel blutiger, als er es wahrhaben will. Und so leben alle von ihren Bildern der Vergangenheit, die sie haben, von den Erinnerungen, nein eher von den Lügengebäuden und Konstrukten ihrer Vergangenheit. Und vor allem stellt sich das Buch des Vaters als Rechtfertigungsschrift für seine Mitschuld an der Klimakatastrophe heraus. Und zwischendurch trinkt man alten teuren Wein, der Vater spielt den Gourmet.

„Die Sonne ist fort, sie wird nie wieder aufgehen. Das Meer vergiftet, eine letzte Möwe schreit. Ein staubiger Sturm weht und erstirbt“, heißt es in einem der Lieder: Jahrzehnte ist es her, seit die Erde unbewohnbar geworden ist: Der ökologische Kollaps ist eingetreten. Das gilt für alle, außer für diese Familie, die sich in einem riesigen Bunker verbarrikadiert hat, in der Illusion dessen, das das alles normal wäre. Die Mutter ist eine ehemalige Ballerina, heute lernt sie Klavier, leidet unter Alpträumen und naja kuratiert die Kunst im Haus, Gemälde der klassischen Moderne, die wahrscheinlich zum Schutz vor der Katastrophe im Salzstock untergebracht wurden; der Vater ist ein ehemaliger Ölmagnat, schreibt seine Erinnerungen. Der Sohn hat die wirkliche Welt nicht mehr erlebt. Und er bekommt jetzt diese Geschichten erzählt und es ist klar: Er wird der letzte sein, niemand wird mehr da sein, mit dem er eine Zukunft planen könnte.

Und dann nimmt die sonderbare Fantasiewelt dieser Familie ein Wendung: Irgendwann taucht ein Mädchen auf, eine junge Frau mit Klarsicht, eigener Vergangenheit und Realismus. Mit Erlebnissen, mit richtigen Erinnerungen, an Dinge, die zuletzt passiert sind. An Menschen, die gestorben sind, ihre Familie. An Brände, Hunger. Aber sie: Sie hat überlebt. Kann sie bleiben? Müssen sie sie wegschicken? Ihre selbstauferlegten Regeln sagen: Sie muss weg. Weil das die Regeln sind, muss die Fremde dahin, wo sie herkommt: raus aus dem Bunker, ohne Rücksicht. Aber (fast) jeder scheint auch einen Vorteil davon zu haben, wenn sie hier bleibt. Und so bleibt sie auch erst einmal. Sie beginnt, den verblendeten Optimismus der Gruppe über den Haufen zu werfen. Der Wein? Ist doch mittlerweile sauer! Und sie stellt einfach mal Fragen, berechtigte Fragen, deren Antworten scheinbar zu Tabus herangewachsen sind. Der Sohn ist der erste, dem sie die Augen öffnet, die Verlogenheiten in seinem Geschichtsdiorama aufdeckt. Seine echten Gefühle spricht sie an. Aber da wächst der Wunsch in einigen der Gruppe, die „Fremde“ loswerden zu wollen. Da helfen dann auch erfundene Geschichten.

Es gibt eine unglaublich beeindruckende Szene, in der der Sohn und die „Fremde“ sich auf einem Tablet alte Fotos der Familie ansehen. Der Sohn versteht spürbar nicht alles, was da zu sehen ist, und für den Zuschauer ist das eine faszinierende Verknüpfung zwischen unserer Jetztzeit und der postapokalyptischen Zukunft. Wie ein Puzzle setzt man sich das, was bis dahin passiert, zusammen. Es bringt die beiden auch näher. Aber zunächst gibt es einen höchst absurden Maskenball.

THE END ist grandios besetzt, mit Oscar®-Preisträgerin Tilda Swinton (MICHAEL CLAYTON)George MacKay (1917), Moses Ingram (LADY IN THE LAKE, DAS DAMENGAMBIT) und dem Oscar®-nominierten Michael Shannon (NOCTURNAL ANIMALS, ZEITEN DES AUFRUHRS) in den Hauptrollen. Wir sind irgendwo zwischen Drama, Satire, Musical, Sci-Fi-Apokalypse, Groteske. Eine verrückte Genremischung, steht zu befürchten, dass die Schnittmenge derer, die das sehen wollen, nicht so riesig sein könnte.

„Manche Menschen mit unbegrenzten Mitteln glauben, es sich leisten zu können, auf kollektive Lösungen zu verzichten, und beschließen stattdessen, sich selbst zu retten“, erklärt Joshua Oppenheimer, der Regisseur. „Sie glauben, dass es zu spät ist für eine Kurskorrektur, und da sie Macht und Privilegien genossen haben, sehen sie keinen Grund, mit allen anderen unterzugehen. Sie werden die Apokalypse allein mit ihren Familien überleben, abgeschnitten von der großen Menschheitsfamilie. Sie reden sich ein, dass sie in völliger Isolation weiterleben und trotzdem Menschen bleiben können. Ihre Menschlichkeit beschränkt sich auf sich selbst. Und warum auch nicht? Schließlich basiert unsere Wirtschaft auf derselben Idee – dass das isolierte und egoistische Individuum die Grundeinheit des Daseins ist. The End lotet die logische Konsequenz dieser Selbsttäuschung aus: eine Familie, die sich Jahre nach dem Tod aller anderen in einem Bunker verschanzt und jeden Komfort genießt, ein letztes Aufflackern menschlichen Bewusstseins, umgeben von den Artefakten einer ausgestorbenen Spezies. In ihrer Verzweiflung reden sie sich ein, dass sie glücklich und gut sind und deshalb alles in Ordnung ist.“

„The End“ kam in den amerikanischen und britischen Kritiken nicht so richtig gut weg, der Film lief beim amerikanischen Telluride Film Festival und beim London Film Festival. Ich sehe das anders, bin von der grotesken Welt begeistert, bin fasziniert von der Darstellung dieser Entfremdung von der realen Welt, die in den Jahrzehnten der Isolation sich eingestellt hat, begeistert. Der Cast ist, wie erwähnt grandios, alleine ein Grund, den Film nicht auslassen zu können. Mich packen die Lieder, und das obwohl ich mit einer tiefen Abneigung gegen Musicals ausgestattet bin. Mich packt das Endzeitliche des Films, gerade weil es eben nicht mit herkömmlicher, erwartbarer Dramaturgie daherkommt.

Zurück zu dem, wie Oppenheimer seine Geschichte sieht: „Es ist ein Optimismus, der aus Angst geboren ist. Die Figuren in The End haben Angst, sich ihrer eigenen Schuld zu stellen, sie haben Angst vor Veränderung, denn Veränderung würde bedeuten, ihre Fehler einzugestehen und ihre Vergangenheit zu akzeptieren. Solange sie das nicht können, sind sie dazu verdammt, sich selbst zu belügen, sogar in ihren privatesten Gedanken. Und so summen wir ihre in Liedern ausgedrückten Illusionen nach, identifizieren uns mit ihnen, während wir ihre tragischen Folgen erleben – und betrauern.“ Wen das nicht abschreckt, dem sei dieser Film bedingungslos ans Herz gelegt, dieses grandiose, spitzenmäßig besetzte, groteske Endzeit-Musical.

DARSTELLER:INNEN
TILDA SWINTON
GEORGE MACKAY
MOSES INGRAM
MICHAEL SHANNON
BRONAGH GALLAGHER
TIM MCINNERNY
LENNIE JAMES
DANIELLE RYAN
NAOMI O’GARRO


REGIE
JOSHUA OPPENHEIMER


DREHBUCH
RASMUS HEISTERBERG
JOSHUA OPPENHEIMER


PRODUZIERT VON
SIGNE BYRGE SØRENSEN


PRODUZENT:INNEN
JOSHUA OPPENHEIMER
TILDA SWINTON
KOPRODUZIERT VON
VIOLA FÜGEN
CONOR BARRY
FLAMINIO ZADRA
TRACY O’RIORDAN
ANN LUNDBERG


KAMERA
MIKHAIL KRICHMAN
SZENENBILD
JETTE LEHMANN
MUSIK
JOSHUA SCHMIDT
SONGTEXTE
JOSHUA OPPENHEIMER
ORIGINALMUSIK
JOSHUA SCHMIDT
MARIUS DE VRIES


 

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