Selbst wer die Namen Bruno Balz und Michael Jary nicht kennt, wird erstaunt sein, wie viele Lieder des Komponisten Jary und des Texters Balz er oder sie kennt – und mitsummen, -pfeifen, -singen kann. Bei Gelegenheit muss ich verifizieren, ob das nur für Menschen gilt die, ich sage mal 40 oder älter sind, oder ob das womöglich auch noch für junge Menschen gilt, die um 2000 geboren sind. Über vierzig Jahre lang waren Balz&Jary das wohl produktivste und erfolgreichste Komponisten-Texter-Duos der deutschen Filmmusik und – oft genug überschnitt sich das – des deutschen Schlagers. Ich weiß, dass ich Lieder wie „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ und „Davon geht die Welt nicht unter“ seit meiner Kindheit oder meiner Jugend kenne, ich kann aber nicht so recht einsortieren, woher genau. Den Film, für den die beiden Lieder, wohl die berühmtesten des Duos, komponiert und getextet wurden, „Die große Liebe“ aus dem Jahr 1942 – mit mehr als 20 Millionen Zuschauern der erfolgreichste Film des Dritten Reichs – habe ich mit Sicherheit erst deutlich später gesehen. Vielleicht kamen die in Lieder in irgendeiner Samstagabend-TV-Show Ende der Siebziger oder so vor.
Michael Jary ist 1906 in Schlesien geboren, Ende der 20er Jahre kam er nach Berlin, aus relativ einfachen Verhältnissen stammend wirkte die Metropole auf ihn sowohl schockierend als auch faszinierend. Die ernste Musik war für ihn zunächst von Bedeutung, aber von Anfang an spielte er auch in Tanzkapellen, auch um sich das Geld für sein Studium zu verdienen. Er wurde er an der Staatlichen Musikhochschule Berlin aufgenommen, die heutige Universität der Künste. Hindemith, Schönberg, Strawinsky gehörten zu seinen Professoren. Es war eine linke Hochschule und es gab viele jüdische Lehrer, was mit der Machtergreifung der Nazis 1933 bald zu Problemen führen würde. Schon bald besetzten Mitglieder des „Kampfbundes für deutsche Kultur“ den Saal der Hochschule.
Bruno Balz hingegen war gebürtiger Berliner, Jahrgang 1902, auch er kam aus recht einfachen Verhältnissen, bereits Anfang der 20er Jahre schrieb er seine ersten Liedtexte. Schon in jungen Jahren, während des Ersten Weltkriegs hatte er sein Coming Out als homosexueller junger Mann gehabt, was ihn zu einem Verfolgten unter der Naziherrschaft machen wird. Im Jahr 1936 wird er das erste Mal verhaftet und nach §175 zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Man rät ihm, falls er seine Karriere als Texter weiterführen wolle, solle er doch heiraten, was er dann auch tat, er heiratete seine Cousine. Später, 1941, wird er ein zweites Mal verhaftet werden, angeblich soll er einen Hitlerjungen angemacht haben, möglicherweise war das eine Falle. Jary wird seine kurzfristige Freilassung erreichen, weil die beiden, so Jary, für Goebbels kriegswichtige Kompositionen für den Film „Die große Liebe“ komponieren müssten.
Zurück in die 30er Jahre: Zu Bruno Balz‘ erstem großen Erfolg werden Texte zu einer Tonfilmoperette, zur Geschlechterkomödie „Viktor und Viktoria“ von Reinhold Schünzel aus dem Jahr 1933. Balz schrieb dazu auch Dialogtexte. Bereits hier erkennt man seine Gratwanderung zwischen intelligentem Humor und dem Klischeespiel, das in seinem Werk immer wieder erkennbar sein wird. Auch das Geschlechterspiel mit Augenzwinkern wird in seinen Texten wieder auftauchen, in der Nazizeit ein „Tanz auf dem Vulkan“. Im Jahr 1937 beginnt dann die Jahrzehnte andauernde Zusammenarbeit zwischen Jary und Balz – die auch die Geschichte einer engen Freundschaft sein wird, vermutlich eines der wichtigsten Erfolgsrezepte ihrer Arbeiten. Sie ziehen sogar in das gleiche Haus, nach Charlottenburg in die Fasanenstraße 60. Sie beziehen direkt übereinander liegende Wohnungen, die tägliche Zusammenarbeit ist so leicht möglich, wenn der eine eine Idee hat, klopft er dem anderen entweder auf Boden oder mit dem Besen an der Decke Bescheid. Manchmal sind sie bei der Kompositionsarbeit aber auch zu laut, dann kam es schon mal vor, dass die Polizei vorbeikam.
In vielen der Filme, für die Balz und Jary Lieder schreiben, wird Zarah Leander die Interpretin der Werke sein. „Der Wind hat mir ein Lied erzählt“ für den Film „La Habanera“ von Detlef Sierck (der sich später, in die USA ausgewandert, Douglas Sirk nennen wird und eine große Hollywoodkarriere haben wird) aus dem Jahr 1937 wird der erste Text von Balz sein, den Zarah Leander intoniert, ebenso dann „Kann den Liebe Sünde sein?“ für „Der Blaufuchs“ von Viktor Tourjansky aus dem Jahr 1938. Der große Balz-Jary-Leander-Erfolg wird dann 1942 aber Rolf Hansens Propaganda- und Durchhaltefilm „Die große Liebe“ sein, mit den bereits erwähnten Titeln „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n“ und „Davon geht die Welt nicht unter“, beides an der Oberfläche Durchhaltenummern, allerdings mit einer subversiven Doppeldeutigkeit.
Nach dem Krieg wird die Karriere und die Zusammenarbeit der beiden noch lange nicht beendet sein, auch wenn Balz sich zunächst den Alliierten gegenüber rechtfertigen muss, warum er Durchhaltetexte gedichtet habe – aber schließlich war er selbst Opfer der NS-Zeit. Auch in der Nachkriegszeit wird Zarah Leander Balz-Texte in Filmen singen. Bald tauchen aber neue, junge Interpretinnen und Interpreten auf: etwa Bibi Johns oder Heintje.
Der Schweizer Regisseur Martin Witz kompiliert in „Im Schatten der Träume“ Filmausschnitte, historische Interviews und verknüpft sie mit heutigen Interpretationen der Balz/Jary-Kompositionen und Interviews etwa mit Musikern wie Götz Alsmann oder mit Historikern zu einer beeindruckenden wie unterhaltsamen Doppelbiografie. Witz erzählt: „Die Biografien und das Werk dieses kongenialen (und heute fast vergessenen) Gespanns erlauben es, ein Stück Zeitgeschichte zu erzählen, wie es meines Wissens noch nicht erzählt ist, nämlich aus der Perspektive des Kinos und der populären Musik: Ausgewählte Spielfilmausschnitte spiegeln den sich wandelnden Zeitgeist und verleihen mit ihrem fiktionalen Drive“. Die Interview- und TV-Ausschnitte, die Witz entdeckt, etwa das Interview mit Douglas Sirk, oder der „Wer bin ich“-Ausschnitt mit Jary („Machen Sie ernste Musik?“ – „Jjjjjjjjjjein.“) sind großartig. Den Interviewpartnern zuzuschauen und zuzuhören ist unterhaltsam und faszinierend: Bibi Johns dabei zuzusehen, wie die Erinnerungen in ihr hochkommen; dem Schauspieler Claudio Maniscalco bei seinen Funden im Balz-Archiv; Rainer Rother, dem Chef der Deutschen Kinemathek, dem man sowieso immer gerne dabei zuhören kann, wie er über Filme und Zeitgeschichte redet; und bei Götz Alsmann kommen musikhistorische und musikalische Expertise zusammen. „Eine Reise durch unsere Populärkultur“ nennt Regisseur Martin Witz seinen Film – und der ist in der Tat ein absolut sehenswerter und kurzweiliger Dokumentarbeitrag im jungen Kinojahr 2025.
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Biografie
Martin Witz (Regie & Buch), geboren 1956 in Zürich. Studium der Germanistik und der Europäischen Volksliteratur. Mitgründer des „Videoladen Zürich“. Seit 1988 als freier Filmschaffender in der Schweiz und in Deutschland tätig, zunächst als Autor und Dramaturg, dann auch als Regisseur, zumeist für Dokumentarfilme in den Bereichen Geschichte, Politik und Kunst. Mitglied der Schweizer Filmakademie.
Filmografie (Auswahl)
- 1987
„Wendel“ (als Co-Autor; Regie/Buch: Christoph Schaub)
- 1988
„Filou“ (als Co-Autor; Regie/Buch: Samir)
- 1992
„Am Ende der Nacht“ (als Co-Autor; Regie: Christoph Schaub)
- 1993
„Ludwig 1881“ (als Co-Autor; Regie: Fosco & Donatello Dubini)
- 1997
„Marthas Garten“ (als Co-Autor; Regie: Peter Liechti)
- 2007
„Dutti der Riese“ (Dok.)
- 2010
„Hugo Koblet – Pédaleur de charme“ (Dok.; als Autor; Regie: D. v. Aarburg)
- 2011
„The Substance – Albert Hofmann’s LSD“ (Dok.)
- 2013
„Die Gentlemen baten zur Kasse“ (TV; als Co-Autor; Regie: C.L. Rettinger)
- 2007
„Gateways to New York“ (Dok.)
- 2024
„Im Schatten der Träume“ (Dok.)
Crew
Regie & Buch: Martin Witz
Produzenten: Ivan Madeo, Carl-Ludwig Rettinger
Bildgestaltung: Till Vielrose
Montage: Stefan Kälin
Originalmusik: Sven Kaiser
Originalton: Alexander Heinze, Reto Stamm, Ralf Weber
Mischung: Alexander Weuffen
Animation & Grafik: Peter Volkart
Sounddesign: Jascha Viehl, Maurizius Staerkle-Drux
Redaktion: Urs Augstburger/Sven Wälti (SRF/SRG SSR), Kathrin Brinkmann (ZDF/ARTE)
Cast
Mit
Götz Alsmann, Manfred Herzer, Micaela Jary, Claudio Maniscalco, Rainer Rother, Klaudia Wick, Bibi Johns, Carol Schuler (Gesang)