
Regie: Katharina Köster, Katrin Nemec | Deutschland 2024 | 81 Min. | FSK ab 12
Ulla und Didi führten einst ein halbwegs normales Leben. Liebe, Vernunft spielte bei der Erziehung ihres Sohnes Niels die wichtigste Rolle. Eine Familie wie jede andere, Eltern wie viele, ein Sohn wie viele, Krankenpfleger wird er. Doch dann bricht ein ungeahntes Drama über die Eltern herein. Aus heiterem Himmel, ohne Vorahnung und von ungeheurem Ausmaß. Ihr Sohn ist Niels Högel, der verurteilt wird für 87 Morde. Begangen hat er vielleicht Hunderte. Aber Högel ist kein Haarmann, kein Schächter. Seine Waffen sind nicht Messer, oder Schusswaffen, oder Hämmer, oder Ähnliches. Er hat seine Taten als Krankenpfleger begangen.
Und für Ulla und Didi hat sich die Welt von einem zum nächsten Tag komplett verändert. Nichts ist mehr so, wie es war. Ihr Leben, tagein, tagaus, ist nun bestimmt von der Schuld und den Taten ihes Sohnes. Die Fragen, die sie von nun an quälen finden keine adäquaten, hilfreichen Antworten. Aber sie wollen ihren Sohn nicht fallen lassen. Sie verfolgen alles, was über ihren Sohn erscheint, Filme, Bücher, Fernsehsendungen.
Aber zunächst beginnt der Film mit Ulla und Didi, als älteres Ehepaar in einem scheinbar ganz normalen Alltag. Urlaub an der Ostsee, Postkarten schreiben, zu Hause den Fernseher einrichten.
„Am Anfang unseres Filmprojekts stand das Thema: Der Konflikt von Eltern, die Kontakt zu ihrem Kind halten, obwohl es eine Schuld auf sich geladen hat, die nicht verzeihbar ist. Jahrelang haben wir nach Eltern gesucht, die sich trauen, ihre Geschichte zu erzählen“, erzählen Katharina Köster und Katrin Nemec, die Regisseurinnen dieses Dokumentarfilms. „Dass wir das Elternpaar Högel gewinnen würden, deren Sohn einer der größten deutschen Serienmörder ist, war nicht geplant. Entsprechend wichtig war es uns, jeder Sensationslust zu widerstehen und wirklich die gültige Geschichte der Eltern zu erzählen – und nicht doch wieder die des Täters, wie es auf den ersten Blick spannend erscheint. Über Täter:innen spricht man ständig. Wir wählen eine neue Perspektive, die nicht zulässt, dass die Zuschauer:innen sich abgrenzen und moralisch über die Eltern erheben, sondern sie fordert, sich einzufühlen.“
Es gibt diese Szene, in der das Ehepaar eine Dokumentation über den Sohn anschaut. Da klingelt das Telefon. Niels ist dran. Eine verwirrende, verstörende Szene. Ulla stehen die Tränen in den Augen, Didi versucht Smalltalk mit dem Sohn.
Wenn man den Erzählungen der Eltern folgt, wird einem plötzlich klar, dass auch die Eltern von Mördern Menschen sind, echte Menschen, nicht Medienprojektionen. Menschen mit einem Alltag, mit Arbeit, mit einer Vergangenheit. Menschen, die einkaufen müssen, in der Angst, jemandem zu begegnen, dem sie sich erklären müssen.
Und hinter allem schwebt die Frage: Warum hat Niels Högel das gemacht? Warum hat er als Pfleger so viele Menschen getötet? Seit vielen Jahren sind die Eltern schlicht ratlos. Es gab kein Trauma, es gab keine schwierige Kindheit, es gab keine Vorfälle, es gab keine Verwahrlosung oder Gewalt. Und am schwersten zu ertragen sind die Kinderbilder von Niels, die etwas Schönes, Positives enthalten, das nie wieder zurückkehren wird; ebenso die Spielsachen aus seiner Kindheit. „Er war ein hübsches Kind, und auch ein ganz Lieber“, sagt Ulla. „Aber woraus resultiert das?“ hinterfragt Ulla in Tausend Variationen immer wieder die Gründe dafür, dass ihr Sohn so etwas verbrochen hat. Was haben sie falsch gemacht? „Ich gebe mir keine Schuld“, sagt Ulla irgendwann.
Phasenweise finden sie dann auch in ihr eigenes, zweisames Leben zurück, das sonst fast durchgehendvon dem geprägt ist, was ihr Sohn getan hat. „Ich leb auch gerne“, sagt Ulla. Und dann gehen die beiden auf einem Weihnachtsmarkt tanzen.
Irgendwann kommt dann der Geburtstagsbesuch bei Niels im Gefängnis…
„Jenseits von Schuld“ ist ein bedrückendes, irgendwie auch faszinierendes Werk über die Eltern eines Monsters, das eigentlich kein Monster hätte werden dürfen. Den Sohn sieht man nicht einmal – außer in den Kinderbildern. Seine Taten lassen einen ratlos zurück und wir begleiten die beiden in ihrer zur Ratlosigkeit gewordenen Leben. Beeindruckend.
Katharina Köster
Geboren 1984. Sie absolvierte zunächst eine Ballettausbildung. Bis 2017 studierte sie Drehbuch und Dokumentarfilmregie an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Sie lebt und arbeitet als Drehbuchautorin und Regisseurin in München.
Filmografie
2009 KURZZEIT (MF, Dok)
2015 NATASCHA (Dok)
2015 LIEBER LEBEN (Dok)
2023 NACH DEM HAPPY END (Dok)
Katrin Nemec
Geboren 1980. Von 2000 bis 2005 absolvierte sie ihr Magisterstudium in Theaterwissenschaft, Neuere Deutsche Literaturwissenschaft und Soziologie an der LMU München. Anschließend folgte ein Studium der Dokumentarfilmregie und Fernsehpublizistik an der Hochschule für Fernsehen und Film München.
Filmografie
2009 KURZZEIT (MF, Dok)
2011 AUS DEM TAKT GERISSEN – ROBERT WOLF (MF, Dok)
2016 VOM LIEBEN UND STERBEN (Dok)
Regie Katharina Köster, Katrin Nemec
Buch Katharina Köster, Katrin Nemec
Kamera Tobias Tempel
Montage Miriam Märk
Musik Cico Beck
Ton Björn Rothe
Produzenten Isabelle Bertolone, David Armati Lechner, Trini Götze
Produktion Trimafilm
Koproduktion ZDF- Das kleine Fernsehspiel
Förderung FilmFernsehFonds Bayern (FFF), Deutscher Filmförderfonds (DFFF)
Verleih RFF – Real Fiction Filmverleih
Weltvertrieb Journeyman Films
Website www.trimafilm.com
Altersfreigabe FSK ab 12