
Berlin-Sachbücher haben es bei mir manchmal schwer, weil ich doch schon einige gelesen habe und gerne Neues über die Stadt lerne, gerne mir bisher unbekannte persönliche Anekdoten – und Unbekanntes über die Vergangenheit gibt’s in Berlin in jedem Fall noch genug zu berichten. Uwe Lehmann-Brauns, Jahrgang 1938, geboren in Potsdam, Jurist und Politiker, saß viele Jahre im Berliner Abgeordnetenhaus, zeitweise war er kulturpolitischer Sprecher der CDU-Fraktion. Und so arbeitet Lehmann-Brauns in sein knappes Büchlein, 120 Seiten, persönliche Anekdoten ein und kommentiert die West-Berliner Geschichte, bisweilen erwartungsgemäß aus CDU-Perspektive, bisweilen aus der Perspektive eines Mannes, der die West-Berliner Geschichte vom Anfang, Wiederaufbau, Luftbrücke, Mauerbau etc. bis hin zum Mauerfall und darüber hinaus selbst erlebt hat. Und immer wieder kommen auch vielleicht überraschende Ansichten, etwa seine, naja, Ehrenrettung der Hausbesetzer – in Anerkennung dessen, dass diese durch ihre Besetzungen vor allem in Kreuzberg den Abriss der alten SO-36-Bebauung verhinderten und damit auch deren „Transformation in kahle Wohnmaschinen“.
Lehmann-Brauns‘ Überblick über die West-Berliner Künstler- und Künstlerinnenlandschaft bleibt, wie er selbst titelt „Name Dropping“, aber sehr erfreulich, dass er einen Abschnitt den Frauen der West-Berliner Kunstwelt widmet, Jeanne Mammen, Renée Sintenis, Hanna Höch – schön seine Anekdote, wie er einst Hanna Höch in Heiligensee besuchte und ihr ein Stück Schokolade aus der Hosentasche anbot, aber: Über diesen Besuch hätte ich sehr, sehr gerne noch mehr erfahren. Den West-Berliner Bausumpf reißt er ebenso an, wie die „Heimsuchung von links“. Hier stört mich gar nicht so sehr seine ablehnende Haltung gegenüber jener Bewegung, die, wie er formuliert, „heute verharmlosend als ‚Studentenproteste‘ erinnert“ werden würde. Immerhin erkennt er auch den „frischen Wind“, den die Studentenbewegung in die Stadt gebracht habe, an. Mir ist allerdings die Einordnung der 1968er etwas unterkomplex. Was mich, eben weil ich jene Zeit nicht selbst miterlebt habe, so furchtbar neugierig macht, wäre, mehr über seine Begegnungen mit Langhans und Kunzelmann zu erfahren. Da bleiben mir die Schilderungen der Begegnungen arg knapp. Und ich hätte auch gerne mehr über seinen Blick auf den Axel-Springer-Konzern erfahren, außer eben, dass er Springers Anspruch auf die Wiedervereinigung würdigte und die Umbenennung des Straßenabschnitts vor dem Springer-Hochhaus in Rudi-Dutschke-Straße als entwürdigend für Springers Andenken ansieht.
Die spannendsten Abschnitte des Buches sind für mich jene, in denen Lehmann-Brauns über persönlich Erlebtes berichtet, etwa über den Mauerfall und die Monate danach. Dann wird er zum Geschichtenerzähler und er breitet seine persönlichen Anekdoten, Erzählungen und Begegnungen dieser so spannenden Zeit aus, erzählt über seine Erforschungen des Ostteils der Stadt und über seine Begegnungen mit den Ost-Berliner Kulturschaffenden. Und noch interessanter ist für mich jener Blick hinter die Kulissen der Ost-Berliner „Botschaft“ der Bundesrepublik Deutschland, die sich aber nicht „Botschaft“ nennen durfte und sich daher „Ständige Vertretung“, kurz „StäV“ nannte. Lehmann-Brauns begegnet dort etwa dem stellvertretenden DDR-Kulturminister Klaus Höpcke, der vom „Volk der DDR“ und von dem der „BRD“ schwadroniert, er trifft auf Karl Seidel aus dem DDR-Außenministerium, der sich schon 1987 als Befürworter Gorbatschows zu erkennen gab. Er lernt den Schriftsteller Günter de Bruyn kennen („einen spacken Herrn im DDR-Cordanzug“), Heinz Werner, den Direktor der Ost-Berliner Stadtbibliothek, Herbert Hampe, den Direktor des Märkischen Museums. Das sind Begegnungen, die für mich besonders spannend sind, auch weil ich über die „StäV“ bisher nicht sehr viel gelesen habe.
Dazwischen ist mir im Buch dann aber immer wieder etwas zu viel des Lamentierens etwa über die „linke Heimsuchung“, und zu viel des Blickes aus politisch gefärbter Perspektive, auch wenn der Autor das im Vorwort ausschließt. Mich interessieren politisch gefärbte Sichtweisen auf die Stadt (oder auf die Welt) nur selten. Mein Blick auf mein Berlin – und ich glaube auch der meisten Berliner – ist ein pragmatischerer: Werden Probleme gelöst? Heute zum Beispiel: Lehrermangel, explodierende Mieten, mangelhafte Integration etc. – aber auch vermüllte Straßen in meinem Bezirk, Obdachlose in den U-Bahnhöfen, antisemitische Vorfälle oder homophobe Gewalt. Da ist es mir erst einmal egal, ob der oder die Regierende Diepgen, Wowereit, Giffey oder Wegner heißt – jede einzelne Regierung der vergangenen Jahrzehnte hatte ihre Licht- und Schattenseiten. Hin und wieder dringt dieser Pragmatismus im Buch auch durch, etwa wenn der Autor Gäste eines Charlottenburger Cafés über West-Berlin sprechen lässt – und dabei auch sich selbst zitiert: „Auch ich war damals jung, wir fühlten uns frei, versagten uns wenig oder nichts, lebten und liebten in der kleinen Welt von Charlottenburg und Kreuzberg. Wartezeiten an der sogenannten DDR-Grenze in Kauf zu nehmen erinnerte uns an die Pflicht, diese abzuschaffen“. Und das ist wohl die schönste, wahrste und treffendste Erklärung dessen, was das Leben in der geteilten Stadt ausgemacht hat.
Da es dem Autor naturgemäß immer wieder um das Thema Wiedervereinigung ging, hätte ich abschließend noch eine Anmerkung, die vielleicht gut in seinen Abschnitt „Stolz auf Berlin?“ gepasst hätte, und die uns vielleicht im Deutschland des Jahres 2025 ein kleines bisschen weiterbringen könnte: Ich glaube, dass uns das Projekt Wiedervereinigung in der Stadt Berlin weit besser gelungen ist, als es uns in Bezug auf die Vereinigung von DDR und Bundesrepublik insgesamt gelungen ist. Nicht nur die Wahlergebnisse zeigen, dass die Spaltung zwischen West und Ost in den letzten Jahren größer statt kleiner geworden ist, während insbesondere für jüngere Menschen das Thema Ost und West in Berlin fast keine Rolle mehr spielt.
Gebunden, 120 Seiten, 14 x 22 cm, 10 Abbildungen
ISBN 978-3-8148-0308-1
2. Auflage, Oktober 2024
20,– €