FORMEN MODERNER ERSCHÖPFUNG von Sascha Hilpert beim achtung berlin filmfestival

„Das Zeitalter der Erschöpfung“, „Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen“, „Das Zeitalter der Nervosität“. Lauter psychologische Lebensratgeber liegen auf dem Tisch. Wir bewegen uns durch die Gänge eines altehrwürdigen Sanatoriums, ein uralter Plan des Gebäudes hängt an der Wand, ein Korridor führt zum nächsten, alte Tapeten an der Wand. Unser Assoziationsfeuerwerk geht unwillkürlich los: Thomas Manns Zauberberg, Wes Andersens Architekturkonstruktionen, die Korridore aus Shining, Gore Verbinskis „A Cure for Wellness“, Beelitz, Heilstätten. Psychoanalysesitzungen, Entspannungsübungen, architektonisch wie therapeutisch scheint das Sanatorium seine Hoch-Zeit Jahrzehnte überschritten zu haben. Frau Dahlhoff aus Hamburg ist frisch eingetroffen, bekommt ihren Sitzplan im Speisesaal zugewiesen, in Ansätzen fühlen wir uns an alte Grand-Hotels erinnert. Und so wandeln sie und ihre Mitpatienten durch den drögen Alltag des Sanatoriums. Therapien, Sitzungen, Anwendungen, Langeweile, Begegnungen mit den anderen Patienten. Allen ist gemein, dass sie aus einer Lebenskrise heraus an diesen Ort gelangt sind. Kaum anders als in den mehr als hundert Jahren, in denen dieses Sanatorium bereits existiert. Und in diesen historischen Tiefen des Hauses gräbt auch eine Historikerin im Hausarchiv, forscht nach den Bedingungen in der Frühzeit des Sanatorienalltags.

»Ich wollte schon lange einen Film machen, indem sich das ‚erschöpfte Individuum‘ an einem Ort, außerhalb aller Orte wiederfindet und in dem es um diese rätselhafte Schwäche geht“, sagt der Regisseur Sascha Hilpert. „Und bald war auch der einzig wahre Schauplatz dafür gefunden:  ein altes Sanatorium mitten im Harz, das nun zum Protagonisten seiner eigenen Geschichte wird. Hier ist alles echt. Das ist nie Kulisse. Das ist ein Raum, in dem seit über hundert Jahren gebadet und geruht und geheilt wird. Die Modediagnosen kamen und gingen und hatten schöne Namen, wie die Neurasthenie, diese seltsame Nervenschwäche des Fin de Siècle, die nervöse Erschöpfung oder der Burnout. Eine Diagnose ist längst das Rüstzeug der Moderne, fast alle haben eine.«

Und auch in der angestaubten Gegenwart dieser Einrichtung tut sich einem der Verdacht auf, dass wie die Neurasthenie auch die Psychoanalyse und welche Formen der Therapien sich hier auch immer auftun, dass all diese Therapieformen vielleicht den Gipfel ihrer Modernität längst überschritten haben – und durch möglicherweise hilfreichere Behandlungsmethoden ersetzt wurden.

Sascha Hilpert gelingt eine überzeugende Mischung aus Spielfilm, Dokumentarform, Milieustudie und Kulturgeschichte des Sanatoriums. Insbesondere die Gratwanderung zwischen Dokumentar- und Spielfilm ist außerordentlich faszinierend. Es gibt diese Analytikerin, die in ihren Sitzungen, immer verständnisvoll in den Patienten hineinhorcht, mitfühlt, deutet, nahelegt. Das ist so deprimierend und nervig wie faszinierend. Auch die Kunsttherapiesitzung, der sich Frau Dahlhoff hingibt ist, schwankt irgendwo zwischen peinlich und faszinierend: Man beobachtet Frau Dahlhoff, wie sie sich zunächst widerständig gibt, sich dann aber ihren ersten Kreativitätsversuchen hingibt. Und wie so oft sind es hier auch die arbeitenden Menschen, die dem Film etwas Reizvolles verleihen: die Putzkräfte, die Therapeutinnen, das Küchenpersonal. Lange hat man nicht den Eindruck, dass der Film einem dramaturgischen Ziel folgt, und doch gleitet er langsam in Richtung einer Struktur, von der dokumentarischen hin zur fiktionalen Form – und dass dies so langsam geschieht ist die beeindruckende Stärke dieses Films.

Deutschland | 2024 | 118 Min.
Deutsch mit englischen UT
Berlin-Premiere

Regie Sascha Hilpert Schauspiel Birgit Unterweger, Rafael Stachowiak, Wolf List Buch Sascha Hilpert, Martin Rosefeldt Kamera Dirk Lütter Schnitt Janina Herhoffer Ton Frank Bubenzer Szenenbild Albin Müller Musik G.F. Händel, Lambchop, The Style Council, Antimo Sorgente Casting Katrin Vorderwülbecke Redaktion Christian Cloos (ZDF) Produzent:in Erik Winker, Martin Roelly, Ümit Uludag Produktion Corso Filmproduktion KoproduktionZDF – Das kleine Fernsehspiel Verleih Real Fiction

Berlin Regie

Uraufführung 58. Internationale Hofer Filmtage

https://achtungberlin.de/2025/formen-moderner-erschoepfung

  •  | Babylon 1
  •  | IL KINO

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert