
FACING WAR
Regie: Tommy Gulliksen / Norwegen, Belgien 2025 / 100 Minuten
Mit der Invasion Russlands in der Ukraine stand die NATO vor einem Dilemma: Wie konnte man Russlands Angriffe auf ein osteuropäisches Land kontern, ohne einen Krieg zwischen der NATO und Russland zu riskieren? Dies war die heikle Aufgabe des NATO-Generalsekretärs Jens Stoltenberg, neun Jahre lang. Tommy Gulliksen porträtiert mit FACING WAR diesen Politiker, begleitet ihn in die Hinterzimmer der Macht, ist bei Verhandlungen und Staatsempfängen dabei. Zu Beginn muss er sich bohrenden Fragen einer Kollegin stellen: Wird er zum Ende seiner Amtszeit Oktober 2023 seine Position abgeben oder will er weitermachen? Dreimal war die Amtszeit bereits verlängert worden. Die Kollegin lässt nicht locker.
Aber nun stand erst einmal ein Gespräch Stoltenbergs im Oval Office in Washington an – mit Joe Biden, natürlich hinter geschlossenen Türen, das Kamerateam durfte nicht mit. Wird er dem Team dennoch mitteilen, was besprochen wurde? Er zögert, darüber zu reden, auch wenn er weiß, dass das, was er sagt noch nicht und erst viel später mit der Veröffentlichung des Films mitgeteilt werden würde. Er ist sehr vorsichtig, denkt nach, wägt ab – vielleicht viel zu selten die Stärke eines Politikers. Und dann denkt er eben nach, und denkt nach, und möchte etwas erzählen, meint aber, dass es sein könnte, dass man das wieder löschen muss später. Und dann erzählt er es, und wir dürfen es auch sehen: Biden hatte ihn gefragt, ob er nicht noch länger im Amt bleiben wolle, man bräuchte ihn wegen des Ukrainekriegs. Stoltenberg habe aber gesagt, dass er aus privaten Gründen aufhören möchte, seine Frau möchte auch etwas von ihm haben. Aber Biden lässt nicht locker. Stoltenberg verlängert schließlich um noch ein Jahr. Inzwischen ist der Niederländer Mark Rutte sein Nachfolger geworden. Und hat Stoltenberg wieder einen neuen Job: Er ist jetzt norwegischer Finanzminister. Ob seine Frau damit zufrieden ist…
Es folgen Bilder aus der Vergangenheit, aus der Geschichte der NATO und ihrer Generalsekretäre. Und dann sind wir dabei bei internen Gesprächen, in denen es um die Abstimmung von Reden des Generalsekretär geht, um Details: „Ukraine“ oder „das ukrainische Volk“? Was klingt besser? Wir sind im Auto dabei, im Flugzeug, im Zug, die Kamera ganz nah, auf der Reise in die Ukraine, beim Treffen mit Präsident Selenskyj. Die NATO vermeidet, in den Krieg einzugreifen, aber die beteiligten Staaten unterstützen die Ukraine: „NATO stands with you today.“ Der nächste schwere Schritt wird der Beitritt Finnlands und Schwedens zur NATO sein – und damit die Verlängerung der Grenze der NATO zu Russland. Irgendwann im Gespräch mit Selenskyj, als es darum geht, ob die Ukraine NATO-Mitglied werden könnte, sagt Stoltenberg sinngemäß, dass es mit den kleineren Ländern nicht so das Problem wäre, aber Washington und Berlin, das wäre schon schwieriger. Irgendwann geht es dann auch um den persönlichen Stoltenberg, dass er sehr „touchy“ ist; es geht um seine Eltern, seine Familie, seine Kindheit.
Natürlich sind das aufregende und spannende Zeiten, die der Film da abdeckt, nun ist aber Jens Stoltenberg, finde ich – keine Kritik an ihm – keine Figur, die provoziert oder spaltet, er ist zutiefst diplomatisch. Und ich fürchte, das ist zumindest in der ersten Hälfte etwas unfilmisch, etwas spannungsarm. So sehr ich diplomatische Herangehensweisen und Besonnenheit im politischen Alltag schätze, ich glaube ich brauche keinen Film darüber. So ist der Film aber immerhin dann am besten, wenn es persönlich wird, in jenem Teil über seine Familie und seine Herkunft. In der zweiten Hälfte legt der Film dann aber auch an Tempo und Spannung zu, insbesondere wenn es darum geht, dass Stoltenberg Ungarn versucht ins Boot zu holen und versucht, dem ungarischen Außenminister möglichst viel abzuringen. Dann ist der Film soweit, dass er einen hineinzieht, und dass er einem viel über den politischen Alltag eines NATO-Generalsekretär hinter den Kulissen verrät.
FACING WAR ist bereits der zweite Dokumentarfilm des norwegischen Regisseurs Tommy Gulliksen beim DOK.fest München, nach WAR OF ART aus dem Jahr 2019, einem Film über ein norwegisches Kunstprojekt in Nordkorea. Das Dokumentarfilmfestival München läuft vom 7. bis zum 18. Mai, die Onlineversion vom 12. bis zum 25. Mai 2025.