SIMON! von Benedikt Schulte beim DOK.fest München

SIMON! 

Regie: Benedikt Schulte / Deutschland 2024 / 53 Minuten

Simon Rattle, geboren 1955 in Liverpool, gerade 70 geworden. Sechzehn Jahre lang war er der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, dann ein paar Jahre London, seit 2023 ist er zurück in Deutschland und hat die Leitung des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks übernommen. Vielleicht ist er der berühmteste Dirigent seit Karajan, er ist eine Legende, seine weißen Locken sind sein Markenzeichen. „Als Kind hatte ich immer Musik im Kopf. Ich dachte, das hat jeder“, sagt er. „Meine Schwester war Autistin. Und das war ein Segen. Durch sie entdeckte ich so viel Musik.“ Und so begegnete er als Achtjähriger der Musik von Schönberg. Statt auf den Spielplatz ging er in die Liverpooler Musikbibliothek. „Sein wir ehrlich: Ich war ein seltsames Kind“, behauptet er. Wir sind im Auto dabei, wenn er durch Berlin fährt und Partituren studiert wie andere die Tageszeitung. Im gemusterten Hemd sieht er irgendwie anders aus, als wenn er am Dirigentenpult steht. Er erzählt, wie er im Berlin vor dem Mauerfall war. Als er Karajan begegnete. Und dann schauen wir ihm bei der Arbeit zu, beim Üben mit dem Orchester. Sätze wie „nicht übertreiben“ fallen. „Dirigieren ist ein einsamer Beruf“, erklärt er überraschend. „Manche sagen, es ist gar kein richtiger Beruf, weil wir selbst keinen Klang erzeugen.“ Eine interessante Feststellung. Aber ich habe eine eigene Meinung dazu: Wenn man feststellen möchte, ob man einen „richtigen Beruf“ hat, dann muss man einem Sechsjährigen erklären, was man bei Arbeit so macht. Und wenn der das versteht, dann ist es ein „richtiger Beruf“. Ich kann das aktuell gerade nicht testen, mein Sohn ist schon neun, aber ich glaube er hatte als Sechsjähriger eine recht gute Vorstellung davon, was ein Dirigent so macht. Jedenfalls eine konkretere Vorstellung als von dem, was ein Rechtsanwalt, ein Marketingmensch, ein Pfarrer oder ein Immobilienmakler so macht.

John Carewe, Rattles Lehrer und Mentor, lebt noch, über 90, und er erzählt von der Ausbildung, sie Simon bei ihm genossen hat. Dass sie lange nicht über das Dirigieren geredet haben, sondern über die Musik und über die Struktur. „Eine Partitur muss man sich erarbeiten“, sagt er. „Simon hat das intuitiv verstanden.“ Der Regisseur Peter Sellars erzählt von ihm. Die Pianistin Imogen Cooper. Die Mezzosopranistin Magdalena Kožená erzählt über ihn – den Dirigenten und Ehemann.

„Als Filmemacher, der auch Partituren lesen kann“, beschreibt Benedikt Schulte sich selbst. Sein Film über Simon Rattle ist bereits seine zweite Musikdokumentation auf dem DOK.fest München, nach „Die Seele der Geige“ im Jahr 2018. Schulte hat in Hildesheim und Bologna Szenische Künste studiert, arbeitete auch schon als Kameramann, beim Dokumentarfilm „Urlau(b)“. SIMON! ist ein zutiefst unterhaltsamer und von Liebe zur Musik geprägter Dokumentarfilm, wegen mir hätte er auch noch deutlich länger sein können, als die 53 Minuten. Es ist schließlich eine Freude, dem Dirigenten zuzusehen und seinen Orchestern zu lauschen. „Er liebt Menschen aufrichtig“, sagt Peter Sellars – und damit hat er vermutlich recht. Und man fühlt sich ihm irgendwie so nahe, wenn man ihn einmal in echt dirigieren sehen hat. Ein toller Dokumentarfilm.

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