PARA-MODERNE im Hatje Cantz Verlag

Kuratiert von Johanna Adam und Robert Eikmeyer zeigt die Bundeskunsthalle in Bonn vom 11. April bis zum 10. August 2025 die Ausstellung „Para-Moderne. Lebensreformen ab 1900“. „Frei sein! Von den Zwängen des bürgerlichen Lebens, vom Kapitalismus und der industriellen Gesellschaft. So sah der Traum vieler junger Menschen um 1900 aus – und sie schmiedeten Pläne für den Ausstieg: In Reformkolonien abseits der Städte oder der Einöde begannen einige von ihnen ein alternatives Leben. Die Rückkehr zur Natur und das Leben in Frieden standen im Zentrum, aber auch Gesundheit, Körperkultur und Spiritualität – ein neues Lebensgefühl, das sich eine passende Ästhetik suchen sollte“, verkündet der Ankündigungstext der Bundeskunsthalle. Die Ausstellungshalle greift damit ein Thema auf, das ich bisher immer nur gestreift habe. Hin und wieder las ich über die Nudistenbewegung jener Zeit. Hin und wieder sah ich Filme, etwa über den Monte Verita. Hin und wieder begegnete ich skurrilen Figuren wie zum Beispiel Louis Haeusser, der unweit von unserem Wohnort hier in Neukölln im Neuköllner Krankenhaus sein Ende fand. Das, was der Begriff Lebensreform abdeckt, hat in allen Variationen mit quasi allen Aspekten des Lebens zu tun, mit der Kunst, mit dem Körper, mit der Besinnung auf die Natur, mit dem Design Alltagsgegenständen, mit Spiritualität, mit der Suche nach dem Wahrhaftigen. Und manchmal auch, siehe Haeusser, mit Politik. Und gerade Haeusser klingt heutzutage mit der schwierigen Verortung im Rechts-Links-Spektrum, mit seiner Wissenschaftsferne, erschreckend aktuell. Um diese Vielfalt an Strömungen geht es auch den Ausstellungsmachern: „Die Ausstellung Para-Moderne. Lebensreformen ab 1900 beleuchtet die Ideale der frühen Lebensreform-Bewegungen und verfolgt sie weiter durch das 20. Jahrhundert. Wohin führten die neuen Sichtweisen und welche Ideen erkennen wir heute im Zeitgeist wieder? Die Ausstellung beleuchtet darüber hinaus Strömungen, deren esoterische Weltsicht sich zu Theorien von Überlegenheit bestimmter ‚Menschenrassen‘ verstiegen. Gemeinsam mit der Idealisierung des gesunden Körpers führte dies zu völkischen Heilslehren, die als wegbereitend für Eugenik, Antisemitismus und Rassismus gelten müssen.“ Die Intendantin der Bundeskunsthalle, Eva Kraus, fasst das mit diese beiden Sätzen zusammen: „In den sozialen Lebensreformen ab 1900 finden sich diverse alternative Erzählungen. Deren Ideale – wie die Freiheit, die Flucht aus den Zwängen des bürgerlichen Lebens, die Abkehr vom Kapitalismus, die Rückkehr aus dem Urbanismus in die Natur – spiegeln sich in den damaligen Versprechungen und wurden von den damals neu entstehenden Reformkolonien postuliert.“

Im Hatje Cantz Verlag ist der prächtig bebilderte Ausstellungskatalog dazu erschienen, 300 Seiten dick, außergewöhnlich gestaltet, ich bemühe mich bei solchen Gelegenheiten wenn’s geht die Buchdesigner zu nennen, in dem Fall wird „HFS Studio“ als Designer genannt, ein Berlin-New Yorker Designbüro. Die Kurator*innen haben den Katalog – ich nehme an, so wird das in der Ausstellung auch sein – in acht große Blöcke eingeteilt: Frei sein!, Nuda veritas, Das geistige Auge, Loheland, Die Wildnis ruft, In Abgründe blicken, Körperbilder, Kalifornication. Adam und Eikmeyer zeichnen dabei die Verbindungswege von den den Vorläufern der Lebensreformen, etwa Henry David Thoreau, über die 1960er Jahre bis zu unserer Gegenwart auf: „Was vor über hundert Jahren als Reaktion auf Industrialisierung und Urbanisierung entstand und über Amerika den Weg in die Gegenkultur der 1960er-Jahre fand, ist heute im Lifestyle der Mitte der Gesellschaft angekommen. Der Schulstreik für das Klima von Fridays For Future und der zivile
Ungehorsam der Letzten Generation sind nur zwei Beispiele sozialer Bewegungen, in denen sich die jüngere Generation für ihr Recht auf eine lebenswerte Zukunft im Einklang mit der Natur einsetzt.“

Ich möchte gerne zwei Blöcke aus dem umfassenden Katalog auswählen, „Nuda veritas“ und „In Abgründe blicken“. „Nuda veritas“ beginnt mit der im Jahr 1896 gegründeten Zeitschrift „Jugend“ und dem sich daraus entwickelnden Jugendstil. „Ein ‚Programm‘ im spießbürgerlichen Sinne des Wortes haben wir nicht. Wir wollen Alles besprechen und illustrieren, was interessant ist, was die Geister bewegt; wir wollen Alles bringen, was schön, gut, charakteristisch, flott und – echt künstlerisch ist“, zitiert der Katalog die Erstausgabe der „Jugend“. Die Verbindungen zwischen Reformbewegung und Jugendstil sind eng. Der ganzheitliche Ansatz verbindet beide Strömungen, und: „Freiheit im Ausdruck und die Freiheit, in alle Lebensbereiche hineinzuwirken, wurden zum Programm.“ Einer der Protagonisten des Jugendstils wird Gustav Klimt sein, einem der Gründungsmitglieder der Wiener Secession. „Die Secessionisten forderten eine Kunst, die sich nicht von historischen Vorbildern oder von etablierten Normen einschränken ließ. Sie ermutigten Künstler, sich in ihrem Schaffen auf die eigenen Erfahrungen, die Gegenwart und auf die Vision einer modernen, freien Welt zu konzentrieren“, schreibt Johanna Adam. In den folgenden Abschnitten geht es Johanna Adam um die Tanzbewegung der Lebensreformzeit, sie geht näher auf Rudolf von Laban ein, einen der Pioniere des Ausdruckstanzes, auf Mary Wigman und spannt dann den Bogen zur Gegenwart zu Sasha Waltz: „Ähnlich wie Mary Wigman in ihrer Zeit gilt Waltz als Erneuerin des Tanzes im Hinblick auf das Potenzial der Kunstform, existenzielle menschliche Erfahrungen und Bedürfnisse zu ergründen“, schreibt Johanna Adam.

Nun zum Abschnitt „In Abgründe blicken“. Robert Eikmeyer begibt sich zunächst auf die Spuren jenes „Inflationsheiligen“ Louis Haeusser, dem ich bei meinen Neukölln-Recherche bereits begegnete. Dieser bedient sich der Nietzsche-Terminologie, der „kommende Übermensch“ sei er, ein neuer Christus. Nach Monte Verita begibt er sich sich als Wanderprediger auf Reisen, inszeniert sich als Prophet, schimpft und geifert das Publikum an, verbreitet seinen Hass. „Haeussers Verkleidungen, seine absurde Rhetorik und die schreiende Ästhetik seiner Vortragsankündigungen“, so Eikmeyer, „verraten die Nähe zum Dadaismus und zur politischen Propaganda“ – eine groteske, heute kaum nachvollziehbare Mischung. Und in der Tat hat er zu Dada-Vertretern Kontakte. Er beeinflusst mit seiner Radikalität und mit seiner Ästhetik sowohl die künstlerische Avantgarde der 1920er – als auch die Nazis. „Haeussers Verhältnis zu Hitler und zum Nationalsozialismus war ambivalent“, schreibt Eikmeyer weiter. „Mit dem Aufruf zur ‚Tat‘ und der suggestiven Wirkung seiner Auftritte wurde Haeusser durchaus wahrgenommen. Hitler hatte ihn 1923 bei einer Versammlung in Stuttgart erlebt und erinnerte sich vor allem an seine Publikumsbeschimpfungen.“ Und in der Tat meint man in der Gegenüberstellung von Haeusser-Pamphleten und einem Hitler-Plakat direkte Zusammenhänge und Einflüsse erkennen zu können. Zur rasseideologischen Fehldeutung Darwins durch Paul Schultze-Naumburg ist der Weg nun nicht weit. Dieser versteckt den rasseideologischen Part seiner Werke geschickt im Subtext, bald erkennt er in sich den Vordenker des NS-Kultur und -Rassebetriebs. Sowohl an der Gleichschaltung als an den Rassegesetzen hat er seinen Anteil.

„Para-Moderne“ ist ein längst überfälliger Überblick über die Lebensreform-Bewegung. Es gibt eine Vielzahl an überraschenden Namen, die einem in diesem Zusammenhang begegnen, sonderbare, wenig bekannte Gestalten, aber auch Bekannt- und Berühmtheiten: Käthe Kruse mit ihren Krusepuppen; der Sonnendoktor Arnold Rikli; der erste Hippie Karl Wilhelm Diefenbach; der „Kohlrabi-Apostel“ und Wanderprophet Gustav Nagel; Hermann Hesse; Hermann Hoffmann und seine Wandervogel-Bewegung; der Zupfgeigenhansl; das „Eigenkleid“ der Anna Muthesius; Wassily Kandinsky; die Traummalerin Wilhelmine Assmann und ihre abstrakte Kunst; die Traumtänzerin Magdeleine G.; Martin Heidegger und sein Rückzugsort Todtnauberg.

Das ist eine solch anekdotenreiche Bewegung, dass ich mich frage, warum ich ihr nicht schon viel früher viel mehr von diesen Lebensreformgeschichten begegnet bin. „Para-Moderne“ ist ein Quell von Entdeckungen und Wiederentdeckungen, die den Leser und bestimmt auch den Ausstellungsbesucher fesseln werden. Vielleicht eine der wichtigsten Ausstellungen des Ausstellungsjahres 2025.

AUSSTELLUNG
Bundeskunsthalle, Bonn
11.04. – 10.08.2025

Herausgegeben von: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn
Texte von: Johanna Adam, Robert Eikmeyer, Lyra Kilston, Anett Matl, Susanne Rappe-Weber, Rainer Schmitz, Johanna Söhnigen
Gestaltet von: HFS Studio
Deutsch. April 2025, 304 Seiten, 200 Fotos
Hardcover
240mm x 300mm
ISBN: 978-3-7757-6019-5

Para-Moderne. Lebensreformen ab 1900
€ 48,00
https://www.hatjecantz.de/products/82023-paramoderne

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