BALCONETTES von Noémie Merlant ab 8.5.2025 im Kino

BALCONETTES (c) 2024 PROGRESS

Directed by Noémie Merlant. Starring Souheila Yacoub, Sanda Codreanu, Noémie Merlant, Lucas Bravo, Nadège Beausson-Diagne | Theatrical release (GER): Q1/Q2 2025 | F | 2024 | 104 Min. | Color | GER, original with German and English subtitles (French) | DCP-2K | 1,85:1 | 5.1 | FSK tba

Eine sommerliche Hitzewelle bringt Marseille zum Kochen, 46 Grad Celsius, eine Hitzewelle legt sich über Frankreich, kündigen die Medien an. Am besten soll man drinnen bleiben, insbesondere Ältere und Kinder. Ein Marseiller Platz, von vier Seiten mit Häusern umgeben, wie eine kleine eigene Welt, vieles spielt sich am offenen Fenster ab, wer Glück hat, dessen Haus liegt noch im Schatten und nur wer muss, verlässt das Haus. Fast wie bei Corona, will man meinen, als auch das Leben sich auf den Balkonen und an den offenen Fenstern abspielte. Nur viel positiver, lebhafter, voller sommerlichem Vergnügen. Man sonnt sich am Fenster, ruft die Kinder herauf, die sich doch rausgewagt haben, übt Trompete, unterhält sich von Balkon zu Balkon. Wie die gegenüberliegende Häuserfront bei Hitchcocks „Fenster zum Hof“ – nur eben, wie schon gesagt, voller guter Laune. Schnitt. Nicht alle haben gute Laune. Da ist Dénises mürrischer Machomann, der von seiner Frau, die sich auf dem Balkon erholt, was zu Essen gekocht bekommen möchte. Voller Wut schlägt sie den Alten mit einer Balkonschaufel nieder, das Blut spritzt bis zum an der Wand hängenden Jesuskreuz. Ist er tot?

Drei junge Freundinnen – Èlise (Noémie Merlant), Ruby (Souheila Yacoub) und Nicole (Sanda Codreanu) – mischen sich von ihrem Balkon aus vergnügt in das Leben ihrer Nachbarn ein. Nicole ist Autorin mit Schreibblockade, die Blockade besteht vor allem in dem attraktiven jungen Typen von der anderen Straßenseite (Lucas Bravo). Aber immerhin könnte der auch die Inspiration für ihren Roman sein, aber sie ist die unscheinbare von den dreien, wird von den Männern immer übersehen. Für Ruby ist Sex, Nacktheit, Lebensfreude der zentrale Lebensinhalt, ihr Geld verdient sie im Internet als „Camgirl“. Und Élise ist die blonde Monroe-Figur im Roten Kleid, aber eigentlich ist sie eine dunkelhaarige Schauspielerin, die aber nun gerade halt die Monroe spielt – und sie ist des Einparkens unfähig. Und so fährt sie denn ausgerechnet das Auto jenes tollen Typen von gegenüber an. Alle drei finden ihn zutiefst attraktiv, also wollen sie ihn alle drei kennen lernen und finden sich eines Abends bei ihm ein, angeblich um den Schaden an seinem Auto zu bezahlen.

BALCONETTES (c) 2024 PROGRESS

Der Besuch beim Nachbarn ohne Namen wird zur wilden, feuchten Party. Immerhin erfahren sie über ihn, dass er ein erfolgreicher Fotograf ist. Angeheitert kehren sie in ihre WG zurück – außer Ruby, die kommt am nächsten Morgen erst wieder, ist blutverschmiert und völlig verstört. Was ist passiert? Die Polizei ist von dem Hilfeanruf der Frauen überfordert, hält ihn für einen Scherz. Wortlos führt Ruby, die weiterhin neben der Spur ist, die beiden in die Wohnung des schönen Fotografen: Dort finden sie seine Leiche vor, blutüberströmt, aufgespießt auf einem Stativ. Doch weiterhin ist die sprachlose Ruby nicht in der Lage, das Geschehene zu schildern. Ist sie vergewaltigt worden und hat sich gerächt? Gewehrt? War es ein Unfall? Sonst etwas?

Jedenfalls beginnen sie nun vorsichtshalber, ihre Spuren vom gestrigen Abend in der Wohnung zu beseitigen. Die Leichenbeseitigung beginnt zu einem immer blutigeren und traumatischeren Horrorerlebnis zu werden.

BALCONETTES (c) 2024 PROGRESS

„Es erschien mir die interessanteste Art zu sein, das Weibliche zu beschreiben und all das zu erforschen, worüber ich erzählen wollte“, erzählt Noémie Merlant. „Ich wollte eine Mischung aus Farben und Texturen. Einen überschwänglichen Film, der mit schlechtem Geschmack und Vulgarität kokettiert, aber auch mit Humor, einer gewissen Poesie und starken Themen, die mir sehr am Herzen liegen: die weibliche Intimität, Vergewaltigung und ihre Folgen, patriarchale Unterdrückung. Schnell hatte ich eine ungezügelte Punk-Farce im Kopf, mit Figuren, mit denen man sich identifizieren kann. Meine eigenen Erfahrungen flossen mit ein. Die Vergewaltigungen, die die Figuren erleiden, habe ich selbst erlitten. Nur mit dem Stilmittel des Humors konnte ich das verfilmen und gleichzeitig Distanz wahren. Komik und Satire sind für mich starke Waffen. Ich hoffe, dass dieser Film nicht nur befreiend wirkt, sondern auch Menschen zum Lachen
und Nachdenken anregt.“

BALCONETTES ist Noémie Merlants zweiter Spielfilm als Regisseurin, nach Mi iubita mon amour, der 2021 in Cannes zu sehen war, sonst aber zumindest in Deutschland nicht den Weg in die Kinos fand. Das Großartige an BALCONETTES ist in jedem Fall der Cast, die drei Frauen spielen ihre Rollen wunderbar. Und auch die Anfangssequenz an diesem Platz in Marseille, wo wir wie in einem Puppenhäuschen Einblick in das Leben der verschiedenen Bewohner der Häuser bekommen, ist grandios. Mich stört etwas der Stilmix, der Genremix, mal Komödie, mal Horrorthriller, mal Drama, mal Trash, ich habe da im Prinzip nichts dagegen, aber der Grundton des Films wechselt mir etwas zu häufig, da komme ich nicht immer mit.

Ich will das aber gar nicht zu sehr verurteilen, denn was Noémie Merlant dann hier sagt, dem kann ich durchaus folgen: „Ich wusste, dass ich das Publikum auf eine aufwendige Reise mitnehmen und in der ästhetischen Gestaltung von Kostümen, Farben und Szenenbild weit gehen wollte. Der Geschichte, die
manchmal mit Horror und Fabel kokettiert, musste die Form folgen, mussten die ästhetischen Entscheidungen mussten Exzess und Farce mit sich bringen. Ich wollte mit unserer Vorstellungswelt und unseren Codes spielen. Den ersten Teil, farbenfroh und fröhlich, wollte ich so gestalten, als würden wir in eine verrückte, romantische Komödie eintreten, mit dem Kino von Almodóvar im Hinterkopf. Eine explosive Mischung aus Farbe, Übertreibung und Leben, die den Frauen Spielraum für Vulgarität lässt und ihnen dadurch wieder Raum gibt. Diese „gesunde Vulgarität“ erforderte auch, die Frauen in einer gewissen Lockerheit zu filmen und sich von der Sexualisierung der Körper zu entfernen.“ Ich kann die Anspielungen an Almodóvar durchaus verstehen und nachvollziehen, aber Almodóvar hält halt seinen Ton, seinen Stil konsequenter durch.

Aber was meckere ich, das ist wirklich ein gewagter, unterhaltsamer, feministischer und mutiger Film und Stilmix und ich würde mich in der Tat freuen, wenn Noémie Merlant diesen Weg weitergehen würde – und vielleicht auch noch etwas mehr ihren eigenen Ton, ihre eigene Filmsprache entdeckt. Ansonsten: Ich war schon seit längerem großer Anhänger ihrer Schauspielkunst – ich bin davon überzeugt, dass sie auch als Regisseurin in die richtige Richtung geht.

BALCONETTES lief im Jahr 2024 in Cannes im Wettbewerb außer Konkurrenz.

BALCONETTES (c) 2024 PROGRESS

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